Little Brother
Wenn ihr nicht innerhalb von 72 Stunden von mir hört, dann geht davon aus, dass sie mich geschnappt haben. Dann könnt ihr tun, was immer ihr wollt. Aber die nächsten drei Tage - und für immer, wenn ich das erledige, was ich erledigen will - haltet euch bitte raus. Versprecht ihr mir das?"
Sie versprachen es mit heiligem Ernst. Dann erlaubte ich ihnen, mich in einen Dämmerschlaf zu plappern, aber ließ sie schwören, mich einmal pro Stunde zu wecken, damit ich Mashas Handy kitzeln und nachschauen konnte, ob mir Zeb schon geantwortet hatte.
[x]
Der Treffpunkt war in einem BART-Waggon, was mich nervös machte. Die Dinger sind voll von Kameras. Aber Zeb wusste, was er tat. Er ließ mich in den letzten Waggon eines bestimmten Zuges einsteigen, der zu einer Uhrzeit von Powell Street Station abfuhr, zu der die Leute dicht an dicht standen. Er näherte sich mir in der Masse, und die guten Pendler von San Francisco machten ihm etwas Platz, die Sorte Freiraum, die man immer um Obdachlose herum beobachtet.
"Schön, dich wieder zu sehen", murmelte er, das Gesicht auf den Eingang gerichtet. Im dunklen Glas konnte ich erkennen, dass niemand dicht genug war, um uns belauschen zu können, zumindest nicht ohne ein Hochleistungs-Richtmikrofon; und wenn sie genug wussten, um mit so einem hier aufzukreuzen, dann waren wir sowieso schon tot.
"Dich auch, Bruder", antwortete ich. "Ich, es... es tut mir Leid, weißt du?"
"Klappe. Muss dir nicht Leid tun. Du warst mutiger, als ich es bin. Bist du jetzt bereit, in den Untergrund zu gehen? Bereit zu verschwinden?"
"Was das angeht..."
Ja?"
"Das ist nicht der Plan."
"Oh", sagte er.
"Hör mal, okay? Ich habe... ich habe Bilder und Video. Sachen, die echt was beweisen." Ich griff in meine Tasche und befingerte mal wieder Mashas Handy. Ich hatte auf dem Weg hierher in Union Square ein Ladegerät gekauft und war in einem Café lange genug sitzen geblieben, bis die Batterieanzeige wieder bei vier von fünf Strichen war.
"Ich muss das hier zu Barbara Stratford kriegen, der Frau beim ,Guardian'. Aber die werden sie beobachten, um zu sehen, ob ich auftauche."
"Glaubst du nicht, die werden auch nach mir Ausschau halten? Falls es ein Teil deines Plans ist, dass ich mich auch bloß auf eine Meile der Wohnung oder dem Büro dieser Frau..."
"Ich will nur, dass du Van dazu bringst, dass sie kommt und mich trifft. Hat Darryl dir mal von Van erzählt? Das Mädchen..."
"Hat er. Ja, er hat mir von ihr erzählt. Meinst du nicht, die beobachten sie auch? Euch alle, die sie festgenommen haben?"
"Ich denke schon. Trotzdem: Ich glaube, sie beobachten sie nicht ganz so genau. Und Van hat eine total weiße Weste. Sie hat nie bei einem meiner...", ich schluckte, "... meiner Projekte mitgewirkt. Deshalb sind sie mit ihr vielleicht ein bisschen entspannter. Wenn sie den Bay Guardian anruft, um einen Termin zu machen, um zu berichten, was für ein Mistkerl ich eigentlich bin, dann lassen sie es ihr vielleicht durchgehen."
Er starrte die Tür an. Ziemlich lange.
"Du weißt, was passiert, wenn sie uns noch mal schnappen." Es war keine Frage.
Ich nickte.
"Bist du sicher? Ein paar von den Leuten, die mit uns auf Treasure Island waren, sind mit Hubschraubern weggebracht worden. Außer Landes. Es gibt ein paar Länder, in die Amerika seine Folter auslagern kann. Länder, in denen du auf ewig versauerst. Länder, in denen du dir irgendwann wünschen wirst, dass sie es einfach nur zu Ende bringen; dass sie dich einen Graben ausheben lassen und dir ins Genick schießen, während du dich drüberbeugst."
Ich schluckte und nickte.
"Ist es das Risiko wert? Wir könnten für sehr, sehr lange Zeit im Untergrund verschwinden. Und vielleicht bekommen wir unser Land eines Tages zurück. Wir können das aussitzen."
Ich schüttelte den Kopf. "Du kannst nichts bewegen, indem du nichts tust. Es ist unser Land. Und sie haben es uns weggenommen. Die Terroristen, die uns angegriffen haben, sind immer noch frei - aber wir nicht. Ich kann nicht für ein Jahr, zehn Jahre, mein ganzes Leben im Untergrund verschwinden und daraufwarten, dass mir die Freiheit gegeben wird. Freiheit ist etwas, das du dir nehmen musst."
[x]
An diesem Nachmittag verließ Van die Schule wie üblich, saß inmitten eines dichten Knäuels ihrer Freundinnen hinten im Bus, lachend und scherzend wie immer. Die anderen Passagiere im Bus schenkten ihr besondere Beachtung, weil sie so laut war und weil sie außerdem diesen blöden, riesigen Schlapphut
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