Little Brother
der Stelle in Tränen auszubrechen. Barbara hatte ein paar Schnappschüsse von Darryl und mir bei gemeinsamen Abenteuern aufgetrieben und ihrem Text zur Seite gestellt. Die Fotos waren vielleicht ein Jahr alt, aber ich sah auf ihnen so viel jünger aus - als ob ich erst zehn oder elf wäre. In den letzten paar Monaten war ich ziemlich erwachsen geworden.
Der Artikel war wundervoll geschrieben. Ich spürte Zorn in mir hochsteigen darüber, wie man diesen armen Kids mitgespielt hatte; dann fiel mir wieder ein, dass sie ja über mich schrieb. Zebs Nachricht war abgedruckt, seine winzige Handschrift auf die halbe Zeitungsseite aufgeblasen. Barbara hatte noch mehr Infos über andere Kids recherchiert, die vermisst waren und als wahrscheinlich tot galten, eine lange Liste; und sie stellte die Frage, wie viele von ihnen lediglich dort auf der Insel festgehalten wurden, nur ein paar Meilen von den elterlichen Türen.
Ich kramte einen weiteren Quarter aus meiner Tasche, dann überlegte ich es mir anders. Wie wahrscheinlich war es denn, dass Barbaras Telefon nicht angezapft wurde? Es gab keine Möglichkeit für mich, sie jetzt anzurufen, jedenfalls nicht direkt. Ich brauchte einen Mittelsmann, der sie kontaktieren und sie dazu bringen musste, mich irgendwo im Süden zu treffen. So viel zum Thema Pläne.
Was ich wirklich dringend brauchte, war das Xnet.
Aber wie zum Teufel konnte ich online gehen? Der WLAN-Finder meines Handys blinkte wie bescheuert - um mich rum alles drahtlos, aber ich hatte weder eine Xbox und einen Fernseher, noch eine ParanoidXbox-DVD, um davon zu booten. WLAN, WLAN überall...
Und da sah ich sie. Zwei Kids, etwa mein Alter, unterwegs in der Masse, oben auf der Treppe runter zur BART.
Was meine Aufmerksamkeit erregte, war ihre Art, sich zu bewegen; etwas unbeholfen rempelten sie die Pendler und die Touristen an. Jeder hatte eine Hand in der Tasche, und sooft sich ihre Blicke trafen, kicherten sie. Noch auffälliger hätten sie ihre Jammerei nicht betreiben können, aber die Menge ignorierte sie. Wenn du da unten in diesem Viertel bist, rechnest du ständig damit, irgendwelche Obdachlosen und Spinner abwimmeln zu müssen, also nimmst du keinen Blickkontakt auf; du vermeidest es überhaupt tunlichst, dich umzuschauen.
Ich näherte mich einem von ihnen. Er wirkte ziemlich jung, obwohl er vermutlich kaum jünger war als ich.
"Hey", sagte ich. "Hey, könnt ihr Jungs mal einen Moment herkommen?" Er tat so, als hörte er mich nicht. Er sah gradewegs durch mich durch, so wie du es mit einem Obdachlosen machen würdest.
"Komm schon. Ich hab nicht viel Zeit." Ich griff ihn an der Schulter und zischte ihm ins Ohr: "Die Bullen sind hinter mir her. Ich bin vom Xnet."
Jetzt sah er ängstlich aus, als wolle er jeden Moment weglaufen, und sein Freund kam auf uns zu. "Ich meins ernst", sagte ich. "Hört mir bloß mal zu."
Sein Freund erreichte uns. Er war größer und stämmig - wie Darryl. "Ey", sagte er, "stimmt was nicht?"
Sein Freund flüsterte ihm was ins Ohr. Beide sahen so aus, als wollten sie dichtmachen.
Ich zog mein Exemplar des "Bay Guardian" unterm Arm hervor und wedelte ihnen damit vor der Nase rum.
"Schlagt einfach mal Seite 5 auf, ja?"
Sie taten es. Sie betrachteten die Schlagzeile. Das Foto. Mich.
"Ooh, Alter!", sagte der erste. "Wir sind sooo unwürdig." Er grinste mich an wie völlig durchgeknallt, und der Stämmigere klopfte mir auf den Rücken.
"Isnichwahr", sagte er. "Du bist M..."
Ich hielt ihm den Mund zu. "Kommt mal hier rüber, okay?" Ich schleppte sie zu meiner Bank zurück. Dabei fielen mir alte, braune Flecken auf dem Bürgersteig darunter ins Auge. Darryls Blut? Ich bekam Gänsehaut. Wir setzten uns hin.
"Ich bin Marcus", sagte ich. Es kostete mich einige Überwindung, diesen beiden, die mich schon als M1k3y kannten, meinen Realnamen zu nennen. Ich gab damit meine Deckung auf, aber gut, der "Bay Guardian" hatte die Verbindung ja ohnehin schon hergestellt.
"Nate", sagte der Kleine. "Liam", sagte der Große. "Alter, es ist sooo eine Ehre, dich zu treffen. Du bist echt unser Über-Held..."
"Sagt das nicht, bitte sagt das nicht. Und ihr zwo seid echt eine Leuchtreklame, die sagt, ,Ich jamme, bitte verfrachtet meinen Arsch nach Gitmo-an-der-Bay. Ihr könntet echt nicht mehr auffälliger sein."
Liam machte ein Gesicht, als wolle er gleich losheulen.
"Keine Sorge, sie haben euch ja nicht erwischt. Ich geb euch später ein paar Tips." Schon strahlte er wieder. Die beiden, das war
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