Little Brother
schüttelte sie ab und ging weiter. Alles war aus.
Sie packte mich wieder. "Hör auf damit, Marcus, du machst mir Angst. Komm schon, sprich mit mir."
Ich hielt an und schaute sie an. Sie verschwamm vor meinen Augen. Ich sah alles nur unscharf. Und ich hatte diesen wahnsinnigen Drang, mich einfach vor die Straßenbahn zu werfen, die grade an uns vorbeiratterte, hier, mitten auf der Straße. Lieber sterben als noch mal dorthin zurück.
"Marcus!" Sie tat etwas, was ich bisher nur aus Filmen kannte: Sie haute mir eine runter, und zwar hart ins Gesicht.
"Sprich mit mir, verdammtnochmal!"
Ich sah sie an und befühlte mein Gesicht, das brannte wie Hölle.
"Niemand darf wissen, wer ich bin", sagte ich. "Ich kanns nicht anders sagen. Wenn du es weißt, dann ist es vorbei. Sobald andere Leute es wissen, ist es gelaufen."
"Oh Gott, es tut mir Leid. Hey, ich weiß das bloß, weil, also, ich hab Jolu erpresst. Nach der Party hab ich dir ein bisschen hinterhergeschnüffelt, um rauszukriegen, ob du wirklich so nett bist, wie du wirkst, oder vielleicht doch ein heimlicher Serienkiller. Jolu kenn ich schon ewig, und als ich ihn über dich ausgefragt habe, da hat er von dir geschwärmt, als wärst du der nächste Messias oder so; aber ich hab gemerkt, dass da immer noch was war, womit er nicht rausrücken wollte. Ich kenn ihn also schon ewig; und er war mal im Computer-Camp hinter meiner älteren Schwester her, als er nochn Kind war. Ich weiß ein paar ziemlich schmutzige Sachen über ihn. Und ich hab ihm gesagt, ich würde die in der Welt rumposaunen, wenn er mir nicht alles erzählt."
"Und dann hat ers dir erzählt."
"Nein", sagte sie. "Er meinte, ich könne mich mal gehackt legen. Dann hab ich ihm also was über mich erzählt. Etwas, was ich überhaupt noch niemandem erzählt habe."
"Was denn?"
Sie schaute mich an. Blickte sich um, blickte wieder zu mir. "Okay, ich lass dich jetzt nicht Verschwiegenheit schwören; was solls? Entweder ich kann dir trauen oder nicht.
Letztes Jahr hab..." Sie stockte. "Letztes Jahr hab ich die standardisierten Tests geklaut und im Internet veröffentlicht. War eigentlich nur zum Spaß. Ich kam zufällig am Büro des Schulleiters vorbei und sah sie im Safe, und die Tür war offen. Ich bin also reingehuscht - da waren sechs Exemplare, und ich hab mir eins davon in die Tasche gesteckt und bin wieder raus. Daheim hab ich sie gescannt und auf einem Piratenpartei-Server in Dänemark veröffentlicht."
"Du warst das?"
Sie errötete. "Hm, ja."
"Heilige Scheiße!" Das war wirklich ne dolle Sache gewesen. Das Erziehungsministerium sagte damals, dass es etliche Millionen Dollar gekostet habe, ihre "Kein Kind wird zurückgelassen"-Tests produzieren zu lassen, und dass sie jetzt nach dem Leck gleich noch mal dieselbe Summe ausgeben müssten. Sie sprachen von "Bildungsterrorismus", und in den Nachrichten wurde spekuliert ohne Ende über die politischen Motive des Täters; man fragte sich, ob es ein Lehrerprotest war, ein Schüler, ein Dieb oder ein unzufriedener Behördenmitarbeiter.
"DU warst das?"
"Ich war das."
"Und du hast es Jolu erzählt..."
"Weil ich ihm zeigen wollte, dass er sich drauf verlassen kann, dass ich das Geheimnis für mich behalte. Wenn er mein Geheimnis kennt, dann hat er was gegen mich in der Hand, das mich ins Gefängnis bringen würde, falls ich meine Falle öffne. Bisschen geben, bisschen nehmen. Quid pro quo, wie in Schweigen der Lämmer."
"Und dann hat er es dir erzählt."
"Nein, hat er nicht."
"Aber..."
"Dann hab ich ihm erzählt, wie total verknallt ich in dich bin und dass ich bereit wär, mich völlig zum Depp zu machen, nur um dich zu kriegen. Dann hat er es mir erzählt."
Ich wusste nicht, was ich sagen sollte, und guckte meine Zehen an. Sie nahm meine Hände und drückte sie.
"Es tut mir Leid, dass ich es aus ihm rausgepresst habe. Es wäre deine Entscheidung gewesen, es mir zu erzählen oder eben nicht. Es stand mir nicht zu..."
"Nein", sagte ich. Jetzt, da ich wusste, wie sies erfahren hatte, beruhigte ich mich langsam wieder. "Nein, es ist gut, dass du es weißt. Du."
"Ich", sagte sie. "Ich dummes kleines Ding."
"Okay, ich kann damit leben. Aber da ist noch eine Sache."
"Was?"
"Keine Ahnung, wie ich es sagen soll, ohne wie ein kompletter Idiot zu klingen, aber... egal. Also: Wenn Leute zusammen sind, oder wie immer man das nennen soll mit uns, dann trennen sie sich manchmal. Und wenn sie sich trennen, dann sind sie böse aufeinander. Manchmal hassen
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