Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
denn?«
Wir saßen nicht zum ersten Mal um diese Zeit in einem Diner, und all diese Nächte hatten rückblickend eine gewisse Ähnlichkeit. Fast war ich mir sicher, dass ein paar der verwahrlosten, bizarren Gestalten an den anderen Tischen – besoffen oder mit Drogen vollgepumpt – schon letztes Mal da gewesen waren. Schon komisch, wie tröstlich eine derart absurde Situation ist: mitten in der Nacht ein Stück schlechten Blaubeerkuchen mit guter Eiscreme zu essen, während zwei Meter weiter ein feister Typ im rosa Tutu mit Hakennase und einem Gesicht voller geplatzter Adern sitzt, die wie eine Karte des kalifornischen Straßennetzes wirken. Zumal, wenn sich dieser Typ lallend mit einem dürren, barfüßigen Einarmigen unterhält, der sich den nackten Schädel grell tätowiert und die langen Fingernägel mit Glitzerlack überzogen hat.
»Marcus«, sagte Jolu, »echt jetzt. Du bist da in was Krasses reingezogen worden und lässt dich von den Leuten treiben, statt selbst die Richtung vorzugeben und die anderen in Zugzwang zu bringen. Dafür gibt es keinen Grund. Sieh es mal so: All diese Leute – die Spinner, die deinen Rechner geknackt haben, oder auch diese Söldner – haben dir einiges voraus: Sie sind organisiert, haben Geld und größere technische Kenntnisse als du.«
»Besten Dank, Jolu.«
»Jetzt mach dich mal locker. Sie müssen sich aber auch koordinieren, wenn sie entscheiden wollen, was als Nächstes zu tun ist. Du kannst einfach machen, was du willst. Das heißt, du kannst aktiv werden, sie damit dazu zwingen, ihr weiteres Vorgehen miteinander abzusprechen, und dann einfach die Richtung ändern, sodass ihr Plan, wenn sie ihn endlich fertighaben, schon gar nicht mehr aufgeht. Sie haben eine Menge Trümpfe im Ärmel, aber das ist deiner, und den hast du bislang noch nicht ausgespielt.«
Ich dachte darüber nach und fand keinen Fehler in seiner Logik. Und trotzdem … »Okay, nur gibt es da leider ein kleines Problem: Ich weiß nämlich nicht, was ich machen soll. «
»Der erste Schritt zur Lösung eines Problems besteht darin, es zu formulieren«, dozierte Jolu mit einem Lächeln. »Jetzt brauchst du nur noch verschiedene Vorgehensweisen, alle unabhängig voneinander, die du quasi griffbereit hältst; dann kannst du bei Bedarf im Handumdrehen den Kurs ändern, Haken schlagen, wie du’s grade brauchst.«
»Noch mal: Schöne Theorie, aber dafür müsste ich mir nicht nur eine einzige, sondern gleich mehrere Optionen überlegen.«
»Ist doch nicht so schwer. Du könntest zum Beispiel einfach alles auf Joes Webseite packen. Sag der Welt, was passiert ist, poste die Johnstone-d0x, und das war’s.«
Ich wand mich. »Mann, Jolu, das wäre aber ein … «
»Unerwarteter Schritt«, beendete er den Satz. »Und recht seltsam. Wohl auch leicht destruktiv, auch wenn ich darauf wetten würde, dass Joe dir verzeiht. Oder du schickst alles an Barbara Stratford. Du könntest auch Carrie Johnstones Passwörter von den Anon-Typen verlangen und die gleich mit publik machen. Das würde sie eine Weile tierisch auf Trab halten. Du könntest in die nächste Niederlassung von Zyz marschieren und lauthals fordern, dass sie dich verschleppen – einfach nur, um sie um den Verstand zu bringen. Oder ruf einfach das FBI an und behaupte, sie hätten jemanden entführt. Oder mach das alles gleichzeitig – und noch mehr.«
Jeder seiner Vorschläge jagte mir kalte Schauer über den Rücken. Aber nicht nur vor Furcht; ein wenig juckte es mich bereits in den Fingern. Das war genau Jolus Stärke: Ideen zu liefern, die so genial und zugleich so bescheuert waren, dass man es mit der Angst zu tun bekam. Ich musste das Thema wechseln, ehe er mich noch völlig verrückt machte.
»Du hast oder hattest also was mit Kylie, wie?«
Da schlug er den Kopf auf den Tisch, zweimal. »Ich bin wirklich ein Schwachkopf. Blöd genug, mit jemandem am Arbeitsplatz was anzufangen, und dann auch noch mit jemandem, der hundertmal schlauer ist als ich. Sie hat längst kapiert, dass es längerfristig nur zwei Möglichkeiten für uns gibt: Entweder wir trennen uns irgendwann, und dann muss einer von uns beiden aus unserer Firma ausscheiden; oder wir bleiben für immer zusammen. Und jetzt will sie auf derStelle von mir wissen, wie ich die Sache sehe. Sie findet es nämlich blöd, die Entscheidung auf die lange Bank zu schieben und den Karren später womöglich mit voller Wucht an die Wand zu fahren, obwohl wir doch jetzt schon sehen, dass das passieren
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