Little Miss Undercover - Ein Familienroman
unglücklich. Er hatte mindestens drei Selbstmordversuche unternommen, bevor er verschwand.«
»Warum wird das im Polizeibericht mit keiner Zeile erwähnt?«
»Wegen der ärztlichen Schweigepflicht. Wenn die Eltern es der Polizei nicht mitteilen, erfährt sie es nicht. Ich war der Einzige, der Bescheid wusste, vom engsten Familienkreis abgesehen. Selbst an der Highschool ahnte niemand etwas. Wenn Andrew fehlte, hieß es immer, er habe Grippe oder eine Mandelentzündung. Mrs. Snow legte großen Wert auf Geheimhaltung.«
»Heißt das, Sie wissen, was ihm passiert ist?«, fragte ich.
»Ich weiß es ganz genau. Er ist vor diesem Haus geflohen, dieser Frau, diesem Leben, das er so gehasst hat. Martin und ich waren ihm bei der Flucht behilflich. Wir hatten es Monate im Voraus geplant. Andrew und Martin fuhren wie verabredet nach Lake Tahoe, während ich meinen Onkel besuchte und abends aufs Konzert ging. Ich wusste, spätestens um zehn wäre Hank so weggetreten, dass er erst am nächsten Morgen merken würde, ob ich da bin oder nicht. Ich nahm seinen Wagen, den Führerschein hatte man ihm ohnehin entzogen. Und selbst wenn er das Auto gesucht hätte, wäre das nicht weiter aufgefallen. Hank wusste nie, wo er die Karre beim letzten Mal abgestellt hatte. Nachts fuhr ich nach Lake Tahoe, um Andrew den Wagen zu überlassen. Er fuhr gleich los. Am nächsten Morgen brachte mich Martin kurz nach Sonnenaufgang zur Greyhound Station, von dort aus fuhr ich mit dem Bus nach San Francisco zurück. Es gab keinen Anlass, uns zu verdächtigen, darum hat die Polizei Martins Aussage auch nie in Zweifel gezogen.«
Larson hielt vor einem Backsteinhaus im Tudorstil, das von einem weißen Palisadenzaun umgeben war. Im Vorgartenspielten zwei Kinder im Vorschulalter mit ihrer Mutter, einer großen Dunkelhaarigen mit einem markanten, aber attraktiven Gesicht.
»Lebt er noch? Wo ist er hingegangen?«
Larson zeigte auf die junge Mutter im Vorgarten. »Da ist sie.«
Ich verstand nicht sofort, was er mir damit sagen wollte, doch als ich diese Frau eine Weile betrachtet hatte, dämmerte es mir.
»Jetzt heißt sie Andrea Meadows. Sie führt eine glückliche Ehe und hat zwei Kinder adoptiert«, erklärte Larson.
»Das widerlegt alle meine Theorien.«
»Haben Sie noch Fragen? Jetzt ist die Gelegenheit.«
»Wohin ist Andrew geflohen?«
»Nach Trinidad, Colorado. Zu einem ganz bestimmten Arzt.«
»Das heißt, Martins Universitätsgeld ...?«
»Ist in die Geschlechtsumwandlung geflossen, ja.«
»Haben Sie eine Ahnung, wie Mrs. Snow reagieren würde, wenn sie davon erführe?«
Larson musste unwillkürlich lächeln. »O ja.«
»Und was hatte es mit diesem Anruf auf sich?«
»Das war Andrea. Sie hatte von ihrem Bruder erfahren, dass Sie wieder Nachforschungen betreiben. Und dem wollte sie ein Ende setzen. Außerdem kann sie ihre Mutter teuflisch gut nachahmen.«
»Ich wusste doch, dass Sie alle etwas zu verbergen hatten.«
»Halten Sie sich gut fest: Es hat nämlich jeder etwas zu verbergen.«
Wie ich so im Streifenwagen saß, kam ich mir ganz schön dämlich vor. All die Verbrechen, die ich dem Sheriff in Gedanken zur Last gelegt hatte, erwiesen sich als reine Fiktion. Es war schließlich nicht verboten, an Zahnstochern zu kauen und mit keiner Wimper zu zucken. Larson war einfach nur ein guter Freund. Punkt.
»Jetzt führt sie ein glückliches Leben. Wenn Sie ihr Geheimnis preisgeben, ist es damit vorbei. Ich vertraue Ihnen, sonst würden wir nicht hier sitzen. Hoffentlich habe ich mich nicht getäuscht.«
»Und was ist mit Mr. Snow? Weiß er Bescheid?«
»Nein.«
»Das wäre aber ratsam«, sagte ich.
»Vermutlich. Doch das soll die Familie entscheiden.«
Er hatte recht. Dieser Fall ging mich nichts mehr an. Larson fragte mich, ob ich ihn nun endgültig zu den Akten legen würde, und ich bejahte. Die Akte Andrew Snow sollte nie wieder auftauchen. Zu Hause warf ich sie umgehend in den Schredder.
Im Fall meiner Schwester ergab sich dagegen absolut nichts. Ich hatte keinen einzigen Anhaltspunkt, keine einzige Theorie, und sei sie noch so abwegig. Rae wurde vermisst, und ich konnte nicht das Geringste unternehmen. Dabei wusste man sonst immer, was sie vorhatte (es sei denn, sie wollte einen absichtlich hinters Licht führen). Außerdem hing sie mit aller Macht an ihrem Zuhause. Es war unvorstellbar, dass sie mich nicht kontaktieren würde, wenn sie dazu Gelegenheit hätte.
E INBRUCH UND H AUSFRIEDENSBRUCH
Vier Tage nach ihrem
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