Live Fast, Play Dirty, Get Naked
waren nicht einfach eine weitere Gitarren/Bass/Schlagzeug-Gruppierung mehr. Wir waren anders. Wir hatten mehr Tiefe, mehr Variation … mehr von allem.
Aber es lag natürlich nicht alles an William.
Wie gesagt herrschte in dieser Anfangszeit eine unglaublich kreative Dynamik zwischen Curtis und ihm, und während William eher derjenige war, der neue Ideen vorschlug und neue Wege entwickelte, die Songs zu spielen, blieb Curtis weiterhin der, der sie schrieb. Er akzeptierte nicht einfach Williams Ideen, sondern baute auf ihnen auf und verarbeitete sie in noch bessere Songs, die William wiederum mit neuen Ideen weiter vervollkommnete.
Natürlich war dieser Prozess nicht immer spannungsfrei, vor allem gegen Ende. Aber selbst am Anfang gab es Momente, in denen Curtis plötzlich in sein altes unantastbares, kritikunfähiges Ich zurückfiel.
Ich erinnere mich an eine Situation, einige Monate nachdem William zur Band stieß. Wir hatten bei einer Probe gerade Naked zu Ende gespielt und Curtis wollte kurz zu Stan, um irgendwas mit ihm zu bereden, da sagte William plötzlich aus heiterem Himmel zu ihm: »Heißt es eigentlich ›idle black eyes‹ oder ›idol black eyes‹?«
»Was?«, fragte Curtis und drehte sich zu ihm um.
»In der ersten Zeile des Songs, verstehst du – ›idle black eyes and drug-yellowed skin‹ …?«
»Was ist damit?«
»Heißt es ›idle‹ im Sinne von ›träge‹ oder ›idol‹ im Sinne von ›Abgott‹?«
»I-D-L-E«, buchstabierte Curtis. »Wie ›träge‹. Wieso fragst du?«
»Bloß so, ehrlich.« William zuckte die Schultern. »Ich hab nur …«
»Nur was?«
»Die Stelle erinnert mich ein bisschen an eine Zeile aus einem Rimbaud-Gedicht, das ist alles.«
»Ja?«
William nickte. »Aus den Illuminationen , so ein Text mit dem Titel Kindheit . Es gibt darin eine Zeile, die im Englischen heißt: ›That idol, black eyes and yellow mane …‹« Er lächelte Curtis an. »Kennst du das Gedicht?«
»Was willst du mir eigentlich sagen?«
»Nichts. Ich hab nur –«
»Willst du mir unterstellen, ich klau meine Songtexte bei Rimbaud?«
William hob abwehrend die Hände. »Nein, nein … überhaupt nicht. Ich hab mich nur irgendwie an die Zeile erinnert, sonst gar nichts. Und mich gefragt, ob du vielleicht auf sie anspielst oder so, verstehst du?«
»Ob ich auf sie anspiele ?«, fragte Curtis mit höhnischem Grinsen.
»Ja.«
Curtis starrte ihn eine Weile nur an, mit kaltem, hartem Blick, und ich hatte das Gefühl, dass er noch weiter gehen wollte, dass er so richtig gegen William loslegen wollte,doch etwas hielt ihn zurück. Und dieses Etwas, überlegte ich, war vielleicht, dass William recht hatte. Curtis las ständig Rimbaud, er liebte die Sachen, und wenn ich mir auch ziemlich sicher war, dass er nicht offen klaute, hätte es mich nicht verwundert, wenn er – wie William es formulierte – in seinen Songtexten gelegentlich auf Rimbauds Werk anspielte .
Schließlich verlor sich die Kälte aus Curtis’ Blick und er fand offenbar, dass es am besten war, die ganze Geschichte mit einem Lachen abzutun.
»Verdammte Scheiße, was verstehst du eigentlich von Rimbaud?«, sagte er und grinste William an.
»Nicht viel«, antwortete William und sprach plötzlich mit gespieltem irischen Akzent. »Ich meine, was versteht schon ein unwissender irischer Sumpfläufer von französischer Poesie des neunzehnten Jahrhunderts?«
»Genau«, sagte Curtis.
Und damit endete die Geschichte.
Obwohl sie rückblickend nur der Anfang war.
Den Leuten fiel der neue Stil von Naked schnell auf. Obwohl wir schon eine ordentliche Fangemeinde hatten und unsere Freitagabend-Auftritte im Conway’s immer viel Publikum angezogen hatten, starteten wir erst, als William in die Band einstieg, so richtig durch. Und das Ganze geschah relativ schnell. Innerhalb etwa eines Monats nach unserem ersten Auftritt mit William hatte sich die Zahl der Zuhörer fast verdoppelt und die Atmosphäre unserer Auftritte wurde mit jeder Woche verrückter. Mehr Leute, mehr Fans, mehr Wahnsinn, mehr Mitsingen und Tanzen … jedes Mal, wenn wir spielten, wurde es heißer und größer, lauter und besser …
Wir waren auf dem Weg nach oben.
Wir waren Naked.
Wir waren heiß .
Neben den Konzerten im Conway’s hatten wir jetzt langsam auch andere Auftritte. Es waren meistens immer noch Pubs, in denen wir auftraten – Orte wie The Red Cow, das Nashville oder The Pied Bull –, aber in solchen Pubs spielte sich damals alles ab. Das Publikum
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