Lob der Stiefmutter
Rigoberto schließlich.
»Wer, wer mein Liebling?« antwortete sie ihm mit der gebotenen Ungeduld, um ihn zu ermutigen.
»Na, ein Monstrum«, hörte sie ihn sagen, schon weit entfernt, unerreichbar im Flug seiner Phantasie.
9.
Menschenähnlichkeit
Das linke Ohr habe ich durch einen Biß verloren, als ich mit einem anderen menschlichen Wesen kämpfte, glaube ich. Aber durch den schmalen Spalt, der mir geblieben ist, höre ich deutlich die Geräusche der Welt. Auch die Dinge sehe ich, wenngleich schief und mit Mühe. Denn dieser bläuliche Wulst links von meinem Mund, ist, auch wenn es auf den ersten Blick nicht so aussieht, ein Auge. Daß es dort ist, daß es funktioniert, daß es Formen und Farben wahrnimmt, ist ein Wunder der medizinischen Wissenschaft, ein Zeugnis des außergewöhnlichen Fortschritts unserer Zeit. Ich müßte eigentlich zu ewiger Dunkelheit verurteilt sein seit jenem großen Brand – ich weiß nicht mehr, ob ein Bombenangriff oder ein Attentat ihn auslöste –, in dem alle Überlebenden der Oxyde wegen das Augenlicht und die Haare verloren. Ich hatte das Glück, nur ein Auge zu verlieren; das andere wurde nach sechzehn Eingriffen von den Augenärzten gerettet. Es hat keine Wimpern und tränt häufig, aber dank ihm kann ich mich durch Fernsehen zerstreuen und vor allem rasch das Erscheinen des Feindes ausmachen. Der gläserne Würfel, in dem ich mich befinde, istmein Zuhause. Ich sehe durch seine Wände hindurch, aber von außen kann mich niemand sehen: ein sehr geeignetes System für die Sicherheit des Heims in dieser Zeit schrecklicher Nachstellungen. Die Glaswände meiner Bleibe sind natürlich kugelsicher, keimsicher, strahlensicher und schalldicht. Sie sind immer mit einem Duft nach Achselschweiß und Moschus parfümiert, der mich – und nur mich, ich weiß – mit Behagen erfüllt.
Ich besitze einen sehr entwickelten Geruchssinn: durch die Nase erfahre ich höchste Lust und höchstes Leid. Soll ich es Nase nennen, dieses häutige, gewaltige Organ, das alle, selbst die feinsten Gerüche registriert? Ich meine die gräuliche, mit weißem Grind überzogene Ausbeulung, die an meinem Mund beginnt und sich, größer werdend, bis zu meinem Stierhals hinabzieht. Nein, es ist nicht die Schwellung des Kropfes oder ein durch Akromegalie aufgeblähter Adamsapfel. Es ist meine Nase. Ich weiß, daß sie weder schön noch nützlich ist, denn ihre übermäßige Empfindlichkeit läßt sie mir zur unbeschreiblichen Marter geraten, wenn eine Ratte in der Nähe verfault oder stinkender Unrat durch die Rohre fließt, die sich durch mein Heim ziehen. Dennoch verehre ich sie, und mitunter denke ich, daß meine Nase der Sitz meiner Seele ist.
Ich habe weder Arme noch Beine, aber meine vier Stummel sind gut vernarbt und verhärtet, so daß ich mich leicht auf dem Boden fortbewegen, ja sogar rennenkann, wenn es nötig ist. Meinen Feinden ist es bislang noch bei keiner Verfolgung gelungen, mich einzuholen. Wie ich die Hände und Füße verloren habe? Ein Arbeitsunfall, womöglich; oder vielleicht ein Medikament, das meine Mutter geschluckt hat, um eine problemlose Schwangerschaft zu erleben (die Wissenschaft ist leider nicht in allen Fällen erfolgreich).
Mein Geschlecht ist unversehrt. Ich kann den Liebesakt vollziehen, unter der Bedingung, daß der Knabe oder die Frau, die als partenaire dienen, mir eine Körperhaltung erlauben, bei der meine Furunkel nicht ihren Körper berühren, denn wenn sie aufplatzen, entströmt ihnen stinkender Eiter, und ich leide entsetzliche Schmerzen. Ich treibe es gern, ich würde sogar sagen, ich bin so etwas wie ein Wollüstling. Zwar erlebe ich so manches Fiasko oder nicht selten die Schmach der vorzeitigen Ejakulation. Aber andere Male habe ich mehrfache, langanhaltende Orgasmen, die mir das Gefühl geben, schwerelos und strahlend zu sein wie der Erzengel Gabriel. Der Abscheu, den ich meinen Liebespartnern einflöße, wandelt sich in Anziehungskraft und sogar in Ekstase, wenn sie erst einmal – meist mit Hilfe von Alkohol oder Drogen – die anfängliche Befangenheit überwunden haben und bereit sind, sich mit mir auf einem Bett zu verflechten. Die Frauen lieben mich am Ende, und die jungen Burschen finden ein lasterhaftes Gefallen an meiner Häßlichkeit. Im Grunde ihrer Seele war die Schöne immer von der Bestie fasziniert, wie so viele Fabelnund Mythologien bezeugen, und selten findet sich ein schmucker Jüngling, in dessen Herzen nicht etwas Perverses nistet. Keiner
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