Lobgesang auf Leibowitz
heraus; aber die Genauigkeit seines Faksimiles erwies sich als groß genug, um das Auge auf zwei Schritt Entfernung zu täuschen, und war so für Ausstellungszwecke ausreichend. Das Original konnte dann vor Licht geschützt weggestellt werden. Nach der Fertigstellung des Faksimiles fand sich Francis von ihm enttäuscht. Die Zeichnung war ihm zu sachlich. Sie hatte nichts an sich, was auf den ersten Blick vermuten ließ, daß es sich um eine geheiligte Reliquie handeln könnte. Die Darstellung kam ihm schmucklos und bescheiden vor – vielleicht für den Seligen selbst gut genug – und doch…
Die Reliquie kopieren genügte nicht. Die Heiligen waren voll der Demut; sie verherrlichten Gott und nicht sich. Es blieb anderen überlassen, die innere Herrlichkeit der Heiligen durch äußere, sichtbare Zeichen abzuschildern. Die sachliche Kopie war nicht genug: sie war kalt und fantasielos, und kein sichtbares Zeichen erinnerte an die heiligmäßigen Eigenschaften des Seligen.
Glorificemus, dachte sich Francis, während er über den Daueraufträgen saß. Zur Zeit schrieb er Seiten aus den Psalmen ab, die später wieder gebunden werden würden. Er hielt inne, um seine Stelle im Text wiederzufinden und um auf den Inhalt der Worte aufzumerken – denn nach Stunden des Abschreibens hatte er ganz und gar aufgehört, sie aufzufassen. Er ließ seine Hand bloß noch die Buchstaben nachziehen, auf die das Auge traf. Er stellte fest, daß er Davids Gebet um Vergebung, den vierten Bußpsalm abgeschrieben hatte: »Miserere mei, Deus… denn ich erkenne meine Missetat und meine Sünde ist immer vor mir.« Es war ein Gebet der Demut, aber die Seite vor seinen Augen war in einem Stil geschrieben, der alles andere als angemessen und demütig war. Das M des Miserere war mit Blattgold eingelegt. Üppige Arabesken aus ineinander verschlungenen goldenen und violetten Fädlein füllten den Rand und verdichteten sich zu Nestern, in denen am Anfang jedes Verses köstlichste Initialen nisteten. Mochte das Gebet selbst so demütig sein, wie es wollte, die Seite war prachtvoll. Bruder Francis schrieb mir den Text auf das neue Pergament, ließ den Platz für die Initialen frei und sparte einen Rand so breit wie die Textzeilen aus. Andere Künstler würden seine mit einfacher Tinte gemalte Abschrift mit prächtigem Farbenspiel umranken und die bilderreichen Initialen entwerfen. Er wurde auch im Illuminieren unterrichtet, war aber noch nicht bewandert genug, als daß man ihm schon Vergoldungsarbeiten an den Daueraufträgen hätte anvertrauen können.
Glorificemus. Er dachte wieder an die Blaupause.
Ohne seinen Einfall den anderen gegenüber zu erwähnen, fing Bruder Francis an, Pläne zu schmieden. Er suchte sich das zarteste Lammfell aus, das er bekommen konnte, und verwendete einige Wochen seiner Freizeit dazu, es zu trocknen, zu spannen und abzuschleifen, bis er eine vollkommen glatte Oberfläche erhielt, die er schließlich schneeweiß bleichte und dann gut verstaute. Die Monate nachher verbrachte er jede freie Minute über den Memorabilien, noch einmal auf der Suche nach Schlüsseln zum Verständnis der Leibowitzpause. Er entdeckte weder etwas, das den Klecksen auf der Zeichnung ähnlich sah, noch irgend etwas, das ihm helfen konnte, ihre Bedeutung zu erklären. Nach langer Zeit jedoch stieß er auf das Bruchstück eines Buches, in dem sich eine teilweise zerstörte Seite fand, deren Hauptgegenstand das Blaupausen war. Es schien sich um einen Abschnitt einer Enzyklopädie zu handeln. Der Hinweis war kurz, und ein Teil des Artikels fehlte, aber nachdem er ihn mehrfach gelesen hatte, fing er an zu argwöhnen, daß er, wie auch eine Menge Abschreiber vor ihm, eine Unmenge an Zeit wie auch an Tinte vergeudet hatten. Der Eindruck des Weiß auf Schwarz schien keine besonders wünschenswerte Eigenschaft, sondern die Auswirkung der Eigentümlichkeiten eines bestimmten preiswerten Reproduktionsverfahrens gewesen zu sein. Die Originalzeichnung, von der eine Blaupause angefertigt worden war, war Schwarz auf Weiß gewesen. Plötzlich mußte er sich gegen den Drang wehren, mit dem Kopf gegen den Steinboden zu schlagen. Die Ströme von Tinte und Schweiß – um eine Nebensächlichkeit nachzuahmen! Nun, man brauchte es Bruder Horner nicht gerade auf die Nase zu binden. Nichts zu sagen würde in Anbetracht des schwachen Herzens von Bruder Horner ein Akt der Nächstenliebe sein.
Die Erkenntnis, daß die Farbverteilung der Blaupausen ein unwesentliches
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