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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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er dort auf der knochenübersäten Ebene von Windwir andere Worte gesprochen hatte: So sollen die Sünden des P’Andro Whym seine Kinder heimsuchen.
    Sie erschauerte. Vergessen war das rätselhafte Mädchen, das hinter ihr saß und auf einen Tee wartete, den Jin Li Tams Magen nun nicht mehr vertragen würde. Vergessen war sogar ihr krankes Kind, das ruhelos ein paar Türen weiter schlief. Und auch das politische Debakel der Benannten Lande verschwand, mit seinen in Trauer darniederliegenden Staaten, die sich noch nicht von Sethberts Verrat erholt gehabt hatten, als die Blutspäher mit ihren Eisenklingen der Neuen Welt neuerlichen Schmerz zufügten.
    All das verblasste einen winzigen Augenblick lang.
    Stattdessen war sie ein kleines Mädchen, dessen Vater sich in
schrecklicher Gefahr befand, und sie konnte die Panik und die Furcht nicht vertreiben, die drohten, sie ins Wanken zu bringen.
    Sie blickte wieder auf den winzigen Vogel – einen aus einer langen Zuchtreihe, die ihr Vater sorgfältig magifiziert hatte, nur damit er seine zweiundvierzigste Tochter immer finden konnte, ganz gleich wo sie auch herumstreunte. Jetzt lag er still, und seine kleinen schwarzen Augen waren im Tod glasig geworden.
    Du bist eine Königin , erklärte eine tief vergrabene Stimme in ihr, die Frau Rudolfos, des Vaters von Jakob. Aber außerdem: Du bist die zweiundvierzigste Tochter von Vlad Li Tam.
    Sie hob den Blick zu dem Späher und reichte ihm den toten Vogel zurück. »Schickt mir den Vogelpfleger«, sagte sie.
    Sie wandte sich um, streng darauf bedacht, die heftigen Gefühle zu verbergen, die sie mit einem Mal heimsuchten. Jin Li Tam zwang sich, zurück zum Tisch und zu Lynnae zu gehen, um Trost in der kochend heißen Bitterkeit des dunklen Tees zu finden, der dort auf sie wartete.
    Petronus
    Petronus verbrachte den Großteil einer Woche damit, seine Notizen zu ordnen, und verschlüsselte sie sorgfältig am Schreibtisch seiner einfachen Unterkunft. Er verließ sein Quartier nur, um Mahlzeiten einzunehmen, und hin und wieder, wenn er es möglich machen konnte, gesellte sich Esarov zu ihm. Der Revolutionär wirkte abgekämpft, aber zufrieden mit der gesamten Entwicklung, und erst am Tag zuvor hatte er Petronus mitgeteilt, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis seine Leute mit dem Angebot zu einem Waffenstillstand und einem Gefangenenaustausch an Lysias herantreten würden.
    »Und Ihr glaubt wirklich, dass das funktionieren wird?«, hatte
Petronus ihn gefragt, während er an einem heißen, bitteren Getränk nippte, das mit Rum verfeinert war.
    »Ja«, hatte Esarov gesagt und sich das lange, ergrauende Haar glattgestrichen. »Aber für Euch wird es eine Herausforderung werden.«
    Für uns alle , dachte er jetzt, während er auf die Worte hinabblickte, die auf dem Pergament zu einem einzigen Fleck zu verschwimmen schienen. Endlich war er auf der letzten Seite angelangt und konnte seine Arbeit für den Augenblick ruhen lassen, in der Hoffnung, wieder dazu zurückkehren zu können, wenn er nicht mehr so dringend für andere Dinge gebraucht wurde.
    Er hörte Grymlis’ energisches Klopfen an der Tür und blickte auf. »Herein«, sagte er.
    Der Graue Gardist sah besorgt aus, aber das überraschte ihn nicht. Als Petronus ihn an einem der vergangenen Tage in den Plan eingeweiht hatte, hatte er die Neuigkeiten nicht gut aufgenommen, und Petronus ging nicht davon aus, dass er sich noch dafür erwärmen würde. Er kam herein und schloss die Tür hinter sich. »Man hat mir mitgeteilt, dass sie sich in zwei Tagen treffen«, sagte Grymlis.
    Petronus nickte. »Das habe ich auch gehört.«
    »Und Ihr seid sicher, dass Ihr das tun wollt?« Sein Kinn drückte Entschlossenheit aus, seine Augen blickten grimmig. »Wir können gehen«, sagte er, »jetzt sofort.«
    Petronus schüttelte den Kopf. »Da bin ich mir nicht sicher, Grymlis.« Und noch weniger sicher weiß ich, ob wir überhaupt gehen sollten. Charles zu befreien war von höchster Wichtigkeit, aber das Ende des Bürgerkriegs im Delta war genauso wichtig. Der Mangel an Stabilität öffnete, so seine Vermutung, Tür und Tor für etwas weit Schlimmeres, und sie konnten sich nicht darauf vorbereiten, solange sie untereinander in Streit lagen. Schon hatte er die Nachricht gehört, dass Meirov von Pylos ihre Grenzen verstärkte und eine große Streitmacht aushob, den Blick nach Norden
gerichtet. Etliche Karawanen waren in den letzten Tagen überfallen und verbrannt worden; zerlumpte Gruppen seines

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