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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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und legte ihr Jakob in die Arme. Sie versuchte, die Nase nicht zu rümpfen, und nahm sich vor, Lynnae später die Decke säubern zu lassen.
    Winters hielt Jakob, und ihr Unbehagen offenbarte sich dabei in jedem Aspekt ihrer Haltung. »Er ist so klein«, sagte sie noch einmal. Aber diesmal bemerkte Jin das Leuchten in ihren Augen und das Lächeln, das an ihren Mundwinkeln zupfte.
    »Habt Ihr noch nie ein Kind auf dem Arm gehalten?«
    Winters schüttelte den Kopf, ohne dass ihr Blick sich von Jakobs Gesicht gelöst hätte. »Ich habe viele Kinder gesehen. Aber ich bin alleine aufgewachsen. Meine Freunde waren hauptsächlich Bücher und Träume. Und Tertius, mein Lehrer.«

    Jin war nicht überrascht. Allein die Größe ihrer eigenen Familie hatte dafür gesorgt, dass sie stets auch Umgang mit den Kleinsten hatte, aber sie konnte nachvollziehen, wie ein Mädchen, das so einsam und von allem ferngehalten wie Winters aufgewachsen war, das Alter ihrer eigenen Fruchtbarkeit erreichen konnte, ohne je aus der Nähe gesehen zu haben, was der eigene Körper mit ein wenig Unterstützung hervorbringen konnte. Sie grinste plötzlich und spürte, wie ihr ein boshafter kleiner Gedanke kam. »Vielleicht sollte ich eine weitere Einheit nach Osten schicken, um den jungen Nebios zu finden und ihn für Euch zurückzuholen«, sagte sie, »damit Ihr Euch ein Eigenes machen könnt.«
    Einen – nur sehr kurzen – Augenblick lang wurde Winters wieder ein Mädchen, das errötete und kicherte. »Ich glaube nicht, dass ich wüsste, was man anstellen muss, um …«
    »Vertraut mir, Königin Winteria«, sagte Jin Li Tam noch immer lächelnd, »Ihr würdet es bald genug herausfinden.«
    Und in diesem kurzen Moment, der ganz ihr gehörte, spürte Jin Li Tam, wie das Gewicht der Neuen Welt von ihren Schultern wich, während sie und die Königin des Sumpfvolks lachten, bis sogar Lynnae und die Flussfrau keine andere Wahl mehr hatten, als mit einzustimmen.
    Als der Augenblick vorüber war, legte sie ihre Messer an, prüfte ihre Rüstung und übergab Jakob in die Obhut seiner Amme. Anschließend ließen sie und Winters, vom Lachen noch ganz gerötet, ihre Pferde kommen und machten sich in die Richtung auf, in die die Pflicht sie rief.
    Winters
    Leichter Schnee fiel, während sie schweigend nach Süden zu den Verhandlungen ritten. Über ihnen hing die Sonne grau verschleiert
in einem trüben Himmel. Um sich herum hörten sie die Geräusche eines Waldes, der sich auf den Frühling vorbereitete, und die steten Schritte ihrer Pferde.
    Winters ritt neben Jin Li Tam und warf ihr hin und wieder einen Blick zu. Die Zigeunerkönigin trug einen Mantel aus silbernen Schuppen und ein Paar Spähermesser mit abgenutzten Griffen. Ihr langes rotes Haar war zu einem Zopf gebunden und mit einem Reif bekrönt, der zu ihrer Rüstung passte. Sie ritt stolz und aufrecht im Sattel. In ihrer ehernen Haltung lag eine ehrfurchtgebietende Schönheit.
    Ich bin überhaupt nicht wie sie , dachte Winters. Wie hatte Rudolfo sie genannt? Vortrefflich? Und doch hatte Winters vor nicht allzu langer Zeit unter die ruhige Maske geblickt, die Jin Li Tam trug. Bei ihrem ersten Treffen mit der Zigeunerkönigin hatte sie Qualen und Zweifel auf dem Gesicht der Frau gesehen. In der Art, wie sie sich an ihr Kind geklammert hatte, selbst wenn sie gerade bedacht auf und ab schritt, hatte eine gewisse Verzweiflung gelegen. Aber sie hatte auch beobachtet, wie Jin Li Tam diese Qualen und Zweifel nahm und sie beiseiteschob, sobald ihre Aufgabe es erforderte. Das war eine Meisterschaft über das Selbst, von der Winters nur hoffen konnte, sie eines Tages zu erlangen.
    Und das Kind. Als sie dieses kleine, warme Bündel in die Arme genommen hatte, diese winzigen Finger und den kleinen Mund gesehen hatte, hatte sich etwas in ihr geregt. Nicht der derbe, ursprüngliche Instinkt, mit dem Jin Li Tam sie aufgezogen hatte, sondern etwas anderes, etwas, das tiefer ging als dieser zwingende menschliche Trieb, mit einem anderen eins zu werden und daraus ein Leben zu erschaffen.
    Viel weiter drinnen hatte es in ihr ein plötzliches und starkes Bedürfnis nach einer Familie geweckt, nach einer beständigen Verbindung mit anderen, die ihre bisherigen Erfahrungen überstieg. Sie hatte immer geglaubt, ihrem Volk gegenüber so zu
empfinden, aber inzwischen war sie sich dessen nicht mehr sicher.
    Ihr Vater war gestorben, als sie noch sehr jung gewesen war, und danach hatte Hanric diese Rolle ausgefüllt, so gut er

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