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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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konnte. Er hatte jedes Verlangen nach einer eigenen Familie zurückgestellt, um ihrem Vater und später ihr selbst zu dienen, aber eine Frau, die die Rolle einer Mutter für die junge Königin eingenommen hätte, hatte es nicht gegeben. Keine Geschwister, die ihren Sinn für ihren Platz in der Welt ausbildeten. Und da sie keinen anderen Weg kannte, war sie inmitten des Buches ihrer Vorfahren und der anderen Bücher aufgewachsen, die sie hatten erbeuten oder kaufen können. Über ihre Regelblutung war sie von der Kräuterdame unterrichtet worden – am Tag, nachdem sie begonnen hatte. Die Grundlagen der Fortpflanzung hatte sie von Tertius gelernt, der dieses Thema für sie in der gewählten Sprache eines gelehrten Androfranziners ausgeführt hatte, ohne irgendwelche Stolperfallen der Liebe oder Heirat oder Neugier zu erwähnen. Bis zu jenem Tag, an dem sie und Neb, in Zungenrede und Prophezeiungen versunken, sich auf dem Boden gewälzt hatten, hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht. Und während er immer tiefer in ihre Träume vorgedrungen war und die Traumbilder der Heimat, die sie eines Tages teilen würden, sie noch fester verbunden hatten, war in ihr ein Gefühl gewachsen, wie sie es noch nie zuvor gekannt hatte. Es war, wie sie jetzt erkannte, im Grunde ein Teil desselben Tanzes.
    Wir sehnen uns nach Bindung. Sie sah es in Jin Li Tams Gesicht, wenn sie ihr Kind stillte. Sie hatte es bei sich selbst gespürt, als sie mit den Frauen im Zelt gelacht und dabei unsicher das kleine Leben in ihren Armen gehalten hatte.
    Noch im letzten Herbst hätte sie geschworen, dass sie eine Verbindung zu ihrem Volk fühlte, wenn man sie danach gefragt hätte. Aber nun, da Hanric in der Erde lag und ihre Stiefel noch frisch beschmutzt waren von der Begräbnisstätte der toten Androfranziner
im päpstlichen Sommerpalast, stellte sie diese Verbindung in Frage. Irgendwie wuchs innerhalb ihres eigenen Volkes, ihrer Familie , etwas Bösartiges und Krankes in den Schatten, und weder sie noch ihre Zwölf hatten etwas davon geahnt. Sie sah noch einmal den Ausdruck von Verzweiflung und Angst auf Seamus’ Gesicht, als er für sie das Hemd seines Enkels zurückgeschlagen hatte. Sie dachte an den Propheten Ezra und das milchige Weiß seiner Augen. Sie erinnerte sich an die Verzückung auf seinem Gesicht, als er ihr das Besitzzeichen auf seiner Brust gezeigt hatte.
    Nein, erkannte sie, es ging nicht nur um das Besitzen … sondern das Dazugehören. Darum, leidenschaftlich und machtvoll mit etwas verbunden zu sein.
    Sie schauderte. Hinfort, Bundrabe.
    Ein leises Pfeifen drang durch den Wald, und sie merkte, dass sie inzwischen den Rand einer kleinen Lichtung erreicht hatten. In ihrem Mittelpunkt stand eine Handvoll Reiter unter den Flaggen von Pylos und Turam versammelt. Sie warf noch einmal einen Blick auf Jin Li Tam, sah die ruhige Entschlossenheit auf dem Gesicht der Frau und ließ sich davon beschwichtigen.
    Jin Li Tam wandte sich zu ihr um und schien die Sorge in ihren Augen zu bemerken. »Folgt meiner Führung, wenn Ihr Euch nicht sicher seid«, sagte sie. Und während sie sprach, bewegten sich ihre Hände unauffällig an den Zügeln und am Hals ihres Pferdes entlang. Ich werde Euch sicher durch die Verhandlungen bringen.
    Winters blinzelte, wusste aber nicht genau, weshalb sie so überrascht war. Rudolfo kannte die Zeichensprache des Hauses Y’Zir, also war es einleuchtend, dass auch seine Braut sie kannte. »Ich danke Euch, edle Dame Tam«, sagte sie.
    Jin Li Tam lächelte sie gezwungen an. »Keine Ursache, edle Dame Winteria.«
    Dann waren ihre Späher auf dem offenen Feld, die Hände über
den Messergriffen, während sie ihre Stellungen einnahmen. Winters richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Gruppe von Reitern vor ihnen und spürte, wie sie die Zähne zusammenbiss. Das Gewicht, das gerade erst von ihr gewichen war, kehrte zurück, und sie holte tief Luft, als es sich auf ihrem Nacken und ihren Schultern niederließ.
    Meirov war leicht ausfindig zu machen, obwohl Winters die Frau noch nie aus der Nähe gesehen hatte. Während des Krieges von Windwir hatte Hanric für sie die Verhandlungen geführt. Dennoch hatte sie Meirov in jenen Zeiten aus der Ferne gesehen, und sie hatte sich keine so ausgemergelte und hohläugige Frau vorgestellt.
    Sie wird vom Kummer verzehrt. Doch Winters bemerkte, dass der Kummer außerdem zu einer bitteren Wut geworden war, die die Kanten von Meirovs Gesicht schärfer hervorstechen und ihre ohnehin helle

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