Lobgesang
erschienen ihr im Lichte dessen, was mit ihrem Volk geschah, inzwischen wie eine Kleinigkeit.
Sie hörte Jin Li Tams Hammer und blickte auf, als die Zigeunerkönigin die Versammlung zur Ordnung rief. Die Frau wirkte müde, aber königlich, ihr kupferrotes Haar war aus dem Gesicht
gekämmt und wurde von Platinkämmen gehalten. Sie stand hinter dem Podium und musterte mit ihren klaren blauen Augen die dicht aneinandergedrängten Ratsmitglieder im Zelt. »Wir fahren nun mit dem Fall von Petronus, dem König von Windwir und ehemaligem Heiligen Stuhl des Androfranziner-Ordens, fort.« Jin Li Tam nickte zu dem Tisch hin, an dem Petronus und Esarov saßen. »Der Antragsteller darf seine Erklärung weiterführen. «
Esarov stand auf und verbeugte sich. »Ich danke Euch, edle Dame Tam.« Er trat hinter dem Tisch hervor. »In den letzten beiden Tagen habt Ihr gehört, wie der Aufseher Erlund und seine Statthalter die Frage von Sethberts Tod erörtert haben. Den Versammelten wurden Zeugen des Rats der Androfranziner vorgeführt, die vernommen wurden. Ihr habt auch Petronus gehört. Und es gibt keinen Zweifel: Dieser Mann hat Sethbert höchstselbst und ohne Aufschub hingerichtet.« Der Mann kniff die Augen zusammen, und Winters sah, dass er den Blick nun fest auf Jin Li Tam richtete. »Ihr selbst, edle Dame Tam, seid Zeugin der Ereignisse jenes Rates gewesen und habt vor uns darüber ausgesagt. Aber ich möchte Euch noch eine Frage stellen.« Er wandte sich um, ließ seinen Blick über das gut gefüllte Zelt schweifen und hielt ein Pergamentblatt hoch.
Jin Li Tam wirkte verblüfft. »Stellt Eure Frage, Esarov. Ihr habt das Podium und braucht keine Erlaubnis von mir.«
Winters beugte sich vor. Sie konnte hören, wie etwas in seiner Stimme anschwoll, und sah, wie er sich in Richtung der Zuhörer wandte, als er seine Frage stellte. »Nun gut, edle Dame Tam, ich will ganz offen sein: Es ist mir zu Ohren gekommen, dass Petronus’ Taten stark vom Haus Li Tam beeinflusst wurden – laut eines hochrangigen Offiziers der entrolusischen Armee wurde er unmittelbar durch Euren Vater manipuliert. Dokumenten zufolge, die mich kürzlich erreicht haben, hat der Erzgelehrte Oriv – auch als Papst Resolut bekannt – nicht Selbstmord begangen, wie
wir alle angenommen haben. Sein Tod wurde durch Nötigung und in geheimer Absprache mit Eurem Vater Vlad Li Tam herbeigeführt. « An dieser Stelle wanderte Esarovs Blick zu Erlund. »Sethberts Familie war zu einem gewissen Grad beteiligt, obwohl nicht genau bekannt ist, wie weit diese Beteiligung ging. Sie wollen einen Krieg beenden, den sie nicht gewinnen konnte, und die Stadtstaaten des Deltas davor bewahren, in einem Bürgerkrieg zu versinken. Resoluts Abschiedsbrief – jener Brief, der Sethbert so schwer belastete – war eine Fälschung des Hauses Li Tam, und eine Waffe der Androfranziner wurde bereitgestellt. Ein Mitglied von Orivs eigener Grauer Garde, ein Hauptmann namens Grymlis, hat in dieser Angelegenheit Unterstützung geleistet.« Er hielt inne, drehte sich wieder in Richtung des Podiums, und fuhr mit einem leichten Lächeln auf den Lippen fort. »Meine Frage an Euch, edle Dame Tam, ist folgende: Wart Ihr Euch bewusst, dass sich Euer Vater in diesem Zusammenhang gemeinsam mit Petronus schuldig gemacht hat?«
Winters musterte Jin Li Tams Gesicht. Bei Esarovs ersten Worten hatte sie geblinzelt, aber ihre Haltung bewahrt. Nun hatte sich ihr Gesicht vor Zorn gerötet. »Mein Vater«, sagte sie mit leiser Stimme, »hat sich vieler Dinge schuldig gemacht. Worauf genau wollt Ihr mit Euren Ausführungen hinaus, Esarov?«
Esarov breitete die Hände aus. »Nur auf Folgendes, edle Dame: Die Verheerung von Windwir ist die größte Tragödie in der Geschichte der Benannten Lande. Seit den Tagen von Xhum Y’Zir und dem Zeitalter des Lachenden Wahnsinns haben wir nichts Vergleichbares gesehen. Und wie uns die Franziner gelehrt haben, reichen diese Wunden tiefer, als unser Bewusstsein wahrnehmen kann.« Er wandte sich nun um und fing an, durch den Raum zu schreiten, um mit den Anführern, die dort versammelt waren, Augenkontakt aufzunehmen. Er blieb vor Meirov stehen, und Winters sah die kalte Wut auf ihrem Gesicht. »Der Fünffache Pfad der Trauer kann uns über verschlungene Wege führen
und uns zu Entscheidungen und Taten bringen, die im Nachhinein betrachtet vielleicht überzogen sind, sich aber im Moment wie das einzig Angemessene anfühlen.« Er ging weiter. »Schon fragt man sich
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