Lobgesang
vor etwa zwanzig Tagen in der Ratskanzlei des Deltas. Er ist an alldem beteiligt.
Die Königin des Machtvolks ging zu Petronus’ Tisch und ließ die Finger über die Oberfläche streichen, während sie vorbeimarschierte.
Der schwere Geruch von Blut und Schlamm und Asche, den sie und ihre unsichtbare Eskorte ausströmten, stieg ihm in die Nase. »Die Zeit der Bundschaft ist vorüber«, sagte sie, »und für uns alle ist die Zeit der Bundheilung gekommen.«
Noch während sie sprach, erhob sich Lärm vor dem Zelt. Es hörte sich an, als wären draußen tausend Stimmen versammelt, die sich zu einem einzigen Ruf vereinigten, und dann betrat ein erschrocken dreinblickendes Mädchen das Zelt, in ihren Armen hielt sie ein kleines Kind umklammert. Hinter ihr folgte ein alter Mann mit erhobenen Händen, der laut in einem verzückten Ausbruch von Zungenrede sang. Um sie herum stob Schnee auf, während magifizierte Plänkler ins Zelt stürmten und zwischen den Zuschauern und dem Kind eine unsichtbare Wand bildeten.
Erlunds General – Lysias, wie sich Petronus erinnerte – sprang vor und rief einen Namen, der in dem Keuchen und Schreien unterging, die das Zelt erfüllten. Unsichtbare Hände schoben ihn zurück. Und der lauteste Schrei kam von der Vorderseite des Raumes, wo Jin Li Tam sich mit Augen wie Eis und einem Knurren auf den Lippen an ihr Podium krallte. »Gebt meinen Sohn frei«, sagte sie, »und ich werde Euer Leben verschonen.«
Die Königin des Machtvolks lachte, und Petronus spürte dabei Eiseskälte auf seinem Rückgrat. »Ihr seid nicht in der Position, mir diesbezüglich Befehle zu erteilen, Große Mutter. Das Leben Eures Sohnes liegt in den Händen des Letzten Sohnes des P’Andro Whym.«
Mit einem Sprung stieß sich Jin Li Tam vom Podest ab, und Petronus sah, wie eine Wand aus unsichtbarer Kraft sie auffing und festhielt, ihre Arme und Beine von unsichtbaren Händen umschlungen, während sie sich aufbäumte und wand. Dann hörte er eine körperlose Stimme sagen: »Sträubt Euch nicht, Große Mutter. Wir halten Euch zu Eurem eigenen Besten fest.«
Das Mädchen, das Jakob hielt, schluchzte laut auf und
drückte ihn an sich, als der alte Mann die Hände ausstreckte, um ihn ihr abzunehmen. Daraufhin machte Jin Li Tam ihrem Zorn kreischend Luft, und als ihre Soldaten plötzlich nach vorne brandeten, wurden sie von einer unsichtbaren Wand von den Füßen gerissen und zurückgeworfen. Unterdessen hob der Prophet Jakob hoch in die Luft, damit alle im Raum ihn sehen konnten. »Sehet«, sagte der alte Mann, »das Kind der Verheißung. «
Zum ersten Mal warf Petronus einen näheren Blick auf das Kind. Es war grau und kleiner, als es hätte sein sollen, seine Augen im Licht zusammengekniffen. Es hing bewegungslos in den Händen des alten Mannes, sein Kopf zur Seite gekippt.
Die ältere Winteria wandte sich zu Petronus und zog ein Messer und einen Ring aus einer Tasche unter ihrer Rüstung. Er sah die Gegenstände und blinzelte. Wie war sie daran gekommen?
Seit dem Tag, an dem er sie auf den Zeltboden hatte fallen lassen und gegangen war, um sich Sethberts Blut von den Händen zu waschen, hatte er weder das eine noch das andere je wieder zu Gesicht bekommen.
»Ihr kennt sie also?«
Er nickte. »Ja.«
Sie legte den Ring auf den Tisch. »Ich habe Euch gesagt, dass das Leben des Kindes in Euren Händen liegt. Glaubt Ihr mir?«
Er musterte die entschlossenen Züge um ihr Kinn, die Gewissheit in ihrem Blick. »Ja«, sagte er. »Ich glaube Euch.«
»Dann erhebt Euch, Letzter Sohn, nehmt Euren Ring und stellt Euch Eurer Abrechnung.«
Petronus erhob sich und griff nach dem Ring, ohne den Blick von dem Kind abzuwenden. Der Ring war noch braun von dem getrockneten Blut, das davon abblätterte, als er ihn auf den Finger schob.
Dann ging er um den Tisch herum und stellte sich vor sie. Die Frau lächelte ihn an. »Ihr habt diesen Rat der Bundschaft einberufen,
um die Frage Eurer Schuld am Tod von Sethbert als König von Windwir und Heiliger Stuhl des Androfranziner-Ordens zu klären. Ich klage Euch mehr als nur dieser Sache an, Petronus, Letzter Sohn des P’Andro Whym. Ich klage Euch einer zweitausendjährigen Blasphemie und Tyrannei an. Ich klage Euch des Königsmords und des Göttermords an.« Sie hielt inne und blickte über die anderen im Raum hinweg. »Ich klage Euch an, weil Ihr die Heimat gestohlen und das Licht gehortet habt.«
Petronus sah das Kind an, anschließend wieder die Frau. »Wer seid Ihr, dass Ihr
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