Lobgesang
schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht.«
»Weißt du es nicht, oder willst du es mir nicht sagen?« Sie erhob die Stimme und hörte die Verbitterung darin. »Seamus, ich beschwöre dich, mir zu verraten, was du weißt.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nichts, meine Königin.«
Winters erhob sich und spürte, wie eine Welle des Schwindels sie überkam, als ihr die Wahrheit bewusst wurde. »Wenn du die Wahrheit sagst, dann bin ich nicht deine Königin.«
Und ohne ein weiteres Wort schlüpfte sie aus dem Zelt und in die eiskalte Nacht hinaus.
Sie wandte sich nach Norden, schlich an den Zigeunerwachen vorbei und spazierte auf den Waldrand am Rande der verheerten Ebene zu.
Dies war vertrauter Boden. Vor nicht allzu langer Zeit war sie
mit Neb über diese Ebene gegangen, während er die Verteidigungsstellungen der Totengräber überprüft hatte. Wo war er?, fragte sie sich. Ihre Träume waren leer ohne ihn. Gewalt und Blut und dunkle Vögel erfüllten sie, und es gab keine tröstenden Worte mehr darin. Dennoch klammerte sie sich an ihre Erinnerungen an Neb und sehnte sich danach, wieder neben ihm herzugehen; danach, dass er ihr sagte, dass alles gut werden würde, dass die Heimat immer noch vor ihnen heraufdämmerte, obwohl sie sich dessen nicht mehr sicher war.
Und sie vermisste die Träume. Nicht die der letzten Zeit, die sich mittlerweile hinter ihren Augen entfalteten.
In dieser Zukunft verschlang das Licht ihr Buch der Träumenden Könige. Und ein Lied, das der verrückte Tertius auf seiner Harfe spielte, führte ihren Liebsten fort von ihr und noch tiefer in die Verheerung. Ihre geheime Schwester – von den Toten zurückgeholt, wie es schien, und mit demselben Namen bedacht – errichtete Schreine für die längst verstorbenen Hexenkönige und ritzte ihr Zeichen in Winters’ Volk, das sich offen dem Dienst für die Karmesinkaiserin verschrieb, deren baldige Ankunft es predigte.
Das Sumpfvolk war tot. Das Machtvolk war an seine Stelle getreten. Und nun war auch sie tot, und eine andere Winteria würde auf den Hochgipfel steigen und sich als Machtvolk-Königin und Bündnisdienerin des Hauses Y’Zir ausrufen.
Bis zu diesem Tag war sie sich nie wie eine Waise vorgekommen, denn sie hatte immer ihr Volk gehabt. Und selbst als sie erschüttert davon gewesen war, wie schnell ihr Volk der Y’Ziritischen Ketzerei anheimgefallen war, hatte sie nicht geglaubt, es wirklich verloren zu haben, bis sie ihre Schwester gesehen hatte – bis sie ihre eigenen Augen, ihren Mund, ihre Nase an der älteren Winteria wiedererkannt hatte.
Aber sie hatte ihr Volk verloren. Und über den Verlust ihres Namens, ihres Volkes, ihres Traumes und ihrer Liebe hinaus
hatte Winters auch ihren Glauben verloren, wie sie jetzt wusste. Sie spürte das Loch, wo er einst gewesen war, und fragte sich, wie er so schnell hatte verschwinden können. Und sie fragte sich, wie und ob sie ihn jemals wiederfinden würde. Sie bezweifelte es.
Aber wie beim Verlust von Hanric und zuvor ihres Vaters und ihrer Mutter, würde sie diesen Verlust in sich aufnehmen und den Schmerz trinken.
Als die Sonne aufging, wandte sie sich nach Osten, um den Himmel zu beobachten, und wusste, was sie tun würde. Sie kehrte leise ins Lager zurück und verließ es mit einem kleinen Bündel unter dem Arm wieder.
Mit klappernden Zähnen watete sie in den Fluss hinaus und schrubbte sich rasch den Schlamm und die Asche vom Körper. Sie öffnete die Zöpfe ihres Haares und ließ Holz- und Blattstücke den Fluss hinabtreiben. Dann schrubbte sie mit einem Seifenstück an sich herum, bis die Kälte des Wassers sie wieder ans Ufer zurücktrieb. Sie trocknete sich mit einem rauen Baumwollhandtuch aus einem Vorratswagen der Neun Wälder ab und zog sich ein Kattunkleid und Stiefel an.
Während sie ihren Pelzmantel gegen die Kälte zuknöpfte, wandte sich Winters wieder nach Norden und kehrte ins Lager zurück.
Morgen würde sie mit Lynnae und Jin Li Tam und Jakob reiten. Sie würde eine Arbeit im den Neun Wäldern aufnehmen und dabei helfen, die Flüchtlinge in die Stadt einzugliedern, die dort wuchs. Jin Li Tam hatte sie darauf hingewiesen, dass es eine erfüllende Aufgabe sein würde, während derer sie über ihre nächsten Schritte nachdenken konnte.
Sie wünschte sich, sie wäre aufgeregt, aber Neugier war das Beste, was sie zustande brachte. Ihre Gedanken waren anderswo, in Beschlag genommen von ihrer Glaubenskrise, wie eine Zunge, die über eine Zahnlücke fährt.
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