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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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saß auf dem Boden der großen Halle und hielt Hanrics kalte Hand, während sie weinte und sich fragte, was zu tun war.
    Mein eigenes Volk hat das angerichtet.
    Betäubt von Aedrics Worten hatte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen können, während die Unterredung sich immer
mehr Spekulationen zuwandte. Nun war Hanric tot. Ansylus ebenso. Nachdem die Flussfrau ihren Kopf hereingesteckt und Rudolfo mitgeteilt hatte, dass Jin Li Tam in den Wehen lag, hatte sie den Zigeunerkönig verlassen, um es mit eigenen Augen zu sehen.
    Sie hatte die Axt der Herabkunft genommen und in das trübe Spiegelbild eines toten Sumpfspähers geblickt, der noch unter dem Bann von Magifizienten stand, die ihr Volk seit zweitausend Jahren weder benutzt noch zu Gesicht bekommen hatte. Natürlich setzten sie Blutmagie für andere Rituale ein, aber die Gifte der Späher waren verschollen – oder von den Androfranzinern unter Verschluss gehalten worden –, seit die Alte Welt vergangen war.
    Und nun saß sie bei Hanric, hielt ihre Amtsaxt in einer Hand, während sie mit der anderen seine leblosen Finger umfasste.
    Der Halbtrupp der Zigeunerspäher hatte alle anderen aus dem Raum geleitet und an der Tür Stellung bezogen, damit sie allein sein konnte. Schon flogen die Vögel nach Westen zu ihrem Volk. Bald würde sie sich zwingen aufzustehen, von seiner Seite zu weichen und mit ihren Leuten durch Rudolfos Gärten zu gehen, um eine letzte Ruhestätte für Hanric zu suchen.
    Sie hatten ihn liegen gelassen, wo er gefallen war, allerdings hatte ihm jemand die Augen geschlossen, und sie konnte die Kälte seines gerinnenden Blutes spüren, die durch den rauen Stoff ihres Kleides drang.
    Winters würde sich in sein Blut kleiden, wie sie sich in die Asche und den Schlamm der Erde kleidete, in die Hanric zurückkehrte.
    Er sei furchterregend gewesen, hatte man ihr gesagt, und habe mindestens zwei seiner Angreifer mit sich gerissen, ehe sie ihn überwältigen konnten. Und diese Angreifer waren noch schneller und stärker gewesen als Späher unter dem Einfluss der üblichen
Erdmagifizienten, die normalerweise angewendet wurden. Sie hatten einen Raum voll bewaffneter Männer gestürmt, ihre Opfer getötet und sich wieder zurückgezogen.
    Doch Rudolfo war verschont geblieben. Sie wunderte sich darüber, und eine jähe Furcht überkam sie, verflüchtigte sich aber dann zu Dankbarkeit. Auch Neb war dabei gewesen. Seine Uniform war zerrissen und mit Blut befleckt. Bei diesem Gedanken bebten ihre Lippen, und wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen.
    Die Franziner lehrten, dass alle Verluste miteinander verbunden waren, und nun sah sie es selbst: Dort in den tanzenden Schatten vor der Feuerstelle in Rudolfos großer Halle, zwischen den verstreuten Überresten eines unterbrochenen Festes, kam Winters sich genauso klein und einsam vor wie damals, als sie vor elf Jahren neben der Leiche ihres Vaters gesessen hatte.
    Natürlich war sie in jenen Zeiten niemals richtig allein gewesen. Hanric hatte die Totenwache mit ihr gehalten. Hanric hatte ihrem Vater die Augen geschlossen und sie auf den Schoß genommen, während er sich an die Wand gelehnt und laut um seinen gefallenen Freund geweint hatte. Mit seinen eigenen Händen hatte Hanric die Ruhestätte für König Mardic in den Höhlen der Schlafenden Könige ausgehoben. Und er war den Anweisungen seines Freundes auf den Buchstaben getreu gefolgt, war auf den Hochgipfel gestiegen und hatte sich in der dunklen Sprache des Hauses Y’Zir zu Winters’ Schatten erklärt, hatte dem Sumpfvolk Treue und Liebe befohlen und sich an ihrer Stelle dem Weg heimwärts verpflichtet, bis Winters das Alter der Mündigkeit erreichte. Bis sie alt genug war, als Herrscherin das Herz der Benannten Lande mit Furcht zu schlagen, sich mit dieser Furcht den Respekt zu verdienen, der nötig war, um die Sumpflande vor Eindringlingen und Heimatdieben zu schützen.
    Nun würde sie, sobald Hanric in der Erde war, nach Hause zu ihrem Volk zurückkehren, auf den Hochgipfel steigen und aus
dem Horn trinken. Zum ersten Mal in ihrem Leben würde sie das Brennen der Blutmagie spüren, wie sie ihre Stimme unterstützte und ihr eine Reichweite von hundert Meilen verlieh. Dann würde sie sich als Winteria bat Mardic ausrufen, das Mündel von Hanric ben Tornus, als Königin des Sumpfes. Anschließend würde sie ihre erste Kriegspredigt halten und sich aufmachen, die Geschehnisse des heutigen Abends aufzuklären.
    Sie schniefte und wischte sich die Nase

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