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Lobgesang

Titel: Lobgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Scholes
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Herz und seinen keuchenden Atem. Die Frau klang jung – sie mochte sogar jünger als das jüngste der Inselmädchen sein, mit denen er in den vergangenen Tagen der Bundschaft Genüge getan hatte. Und sie sprach mit einem Akzent, den er nicht einordnen konnte.
    Er streckte und reckte sich in dem flachen Wasser und zerrte an den Seilen, die fest um seine Hand- und Fußgelenke geschnürt waren. Es waren fachmännische Knoten, aber er hatte nichts anderes erwartet. Er fragte sich, ob sein Enkel sie selbst geknüpft hatte oder ob es das Mädchen gewesen war. Oder gab es noch andere?
    Es muss andere geben , dachte er. Dies war keines seiner eisernen Schiffe, und es brauchte eine Mannschaft.
    Fragen über Fragen sammelten sich in dem Sturm, der in seinem Verstand aufzog. Mehr Fragen als Antworten, und in ihrem Mittelpunkt stand ein unmöglicher Verrat.
    Das schlanke, schwarze Buch, die kalten und berechnenden Worte. Die Erinnerung daran ließ die Bemerkung seines ersten Enkels wiederkehren. Dein eigener Vater hat dich verraten.
    Unmöglich. Aber das Buch tanzte vor seinen Augen, und in seinem Inneren war etwas, das ihm versicherte, dass es stimmte. Sein Vater hatte sein Werk an Petronus verrichtet und an tausend anderen, aber was, wenn er auch Vlad bearbeitet hatte, auf dieselbe Weise, in der Vlad seine zweiundvierzigste Tochter für ihr Werk vorbereitet hatte? Was, wenn das alles nur Teil einer noch größeren Aufgabe war, als er sich je vorgestellt hatte?
Und was, wenn es geplant gewesen war, dass er, sobald es an der Zeit war, sein Werk an Rudolfo und der neuen Bibliothek vollendete und sich und seine Sippe aus den Benannten Landen zurückzog?
    Schon konnte er feststellen, wie sein Atem langsamer ging, während sich sein Verstand mit diesem neuen Rätsel vertraut machte, das es zu lösen galt.
    Wie viele seiner Kinder waren darin verwickelt? Seiner Enkelkinder? Er stellte eine Bestandsliste auf und begann sie abzuhaken, rief sich die Gesichter seiner Söhne und Töchter ins Gedächtnis und die ihrer Söhne und Töchter. Und während er sie heraufbeschwor, sortierte er sie und fertigte seine Liste mit Verdächtigen an.
    Als er ein Junge gewesen war, hatte Vlad Li Tam seinen Vater ebenso angebetet wie gefürchtet, aber darüber hinaus hatte er dem Mann echte Bewunderung entgegengebracht. Diese Bewunderung hatte vielen Dingen gegolten, aber eines fiel ihm besonders ins Auge:
    Tal Li Tam hatte seine Familie stets geschickt vergrößert, indem er gezielt nicht um der Stellung willen geheiratet hatte, sondern um bestimmter Eigenschaften willen, und seiner Herde somit rasch Kinder aus einer ganzen Reihe von Stammbäumen hinzugefügt. Er hatte über hundert Ehefrauen und über dreihundert Kinder gehabt – die größte Familie, die das Haus Li Tam je erlebt hatte, wodurch eine Erweiterung ihrer Liegenschaften an den Smaragdküsten erforderlich geworden war. Und doch hatte sein Vater jeden Einzelnen davon mit Namen gekannt, und es hatte immer gewirkt, als wäre er sich ihrer jeweiligen Lebensumstände bewusst.
    Bis heute hatte Vlad Li Tam geglaubt, er hätte es genauso gemacht, aber inzwischen wusste er, dass ihn trotz der Namen und trotz allem, das er über sie zu wissen geglaubt hatte, einige aus seiner Familie – vielleicht diejenigen, denen er am meisten vertraut
hatte – verraten hatten. Mehr als nur verraten: Sie hatten es auf das Geheiß jenes Vaters getan, den er so bewundert hatte, wenn er Mal Li Tams Worten vertrauen konnte.
    Und auch Windwir war ein Teil jenes Verrats. Er erinnerte sich plötzlich daran, wie er die bebende Hand seines ersten Enkels gehalten hatte, als er ihm zum ersten Mal den goldenen Vogel und dessen mechanische Finessen vorgeführt hatte. Der Junge hatte geweint. Nun fragte er sich, ob der Junge auch dann geweint hatte, als der goldene Vogel ihm seine düstere Nachricht von der vollendeten Aufgabe zugeflüstert hatte. Vlad hatte befürchtet, dass seine Familie auf irgendeine Art von einer äußeren Bedrohung missbraucht worden war – oder missbraucht werden könnte. Er hatte nicht damit gerechnet, diese Bedrohung könnte von innen kommen.
    Er spürte, wie der Zorn in seinem Kopf pulsierte, und sein Herzschlag fühlte sich an wie eine Faust, die unablässig gegen die Tür des stickigen Raums schlug. Dann schloss er die Augen hinter der Augenbinde und zwang seine Atmung und seinen Herzschlag, langsamer zu werden. Der Zorn soll zu Erkenntnis werden , dachte er. Er kehrte wieder zu seiner

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