Lockend klingt das Lied der Wueste
denn er hatte noch gesehen, was Lisa in der Hand hielt, als er hereinkam. Ansonsten war sein Gesicht ausdruckslos.
„Karim, wir hatten uns schon gefragt, wann du eintreffen wirst.“ Yasmin erhob sich. „Wir sind fertig. Lisa hat sich erboten, Fotos von der Party zu machen und sie Jeppa zum Geburtstag zu schenken.“
„Und von mir bekommt sie eins von Lisas Büchern.“
„Oh, wirklich?“, rief Lisa überrascht.
„Das mit den Kindheitserinnerungen.“
Lisa fühlte sich geehrt, dass er ihr Buch für wert befunden hatte, es seiner Cousine zum Geschenk zu machen.
Die Limousine, in die sie wenig später stiegen, war mit jedem erdenklichen Luxus ausgestattet. Lisa kam sich vor wie Aschenputtel, die zum Ball abgeholt wurde. Würde sie nach diesem Wochenende nur noch einen Schuh besitzen, und alles löste sich in nichts auf?
Nach kurzer Zeit erreichten sie das Haus von Karims Onkel. Als sie den breiten Plattenweg zu der märchenhaft erleuchteten Villa hinaufgingen, hätte Lisa am liebsten sofort zu fotografieren angefangen.
Das Innere des Hauses war ein Traum. Das Licht zahlreicher funkelnder Kristalllüster ließ den Schmuck der Damen aufblitzen und ihre extravaganten Roben schimmern. Auch die Herren wirkten ausgesprochen vornehm in ihren dunklen Anzügen. Alle trugen westliche Kleidung, was Lisa überraschte. Sie hätte eher orientalische Gewänder erwartet.
Die Gäste waren eine illustre Schar. Von modernen jungen Leuten bis zu konservativen Senioren war alles vertreten.
Die Neuankömmlinge brauchten ein paar Minuten, bis sie sich zu dem Geburtstagskind vorgearbeitet hatten. Als Jeppa ihren Cousin erblickte, kam sie freudestrahlend auf ihn zugeeilt und umarmte ihn stürmisch. Dabei redete sie wie ein Wasserfall. Ganz offensichtlich war sie überglücklich, Karim zu sehen. Leider konnte Lisa kein Wort von dem verstehen, was sie sagte. Rasch holte sie die kleine Kamera, die sie für Schnappschüsse benützte, aus der Handtasche und machte eine Aufnahme.
Karim befreite sich aus den Armen seiner Cousine und wechselte zu Englisch über.
„Jeppa, das ist Miss Sullinger, ein Gast meiner Mutter“, stellte er Lisa vor. „Lisa, meine Cousine Jeppa.“
„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag“, sagte Lisa mit einem freundlichen Lächeln. „Ich hoffe, es stört Sie nicht, dass ich mitgekommen bin.“
„Aber nein, ganz im Gegenteil“, versicherte die junge Frau. „Ich freue mich, Sie kennenzulernen.“ Lachend hängte sie sich an Karims Arm. „Ach, ich bin ja so froh, dass du gekommen bist, Karim! Das ist für mich das schönste Geburtstagsgeschenk.“ Dann wandte sie sich an ihre Tante und verfiel wieder in die arabische Sprache.
Karim zog Lisa mit sich. „Kommen Sie, ich werde Ihnen etwas zu trinken besorgen und Sie den anderen Familienmitgliedern vorstellen.“
Zuerst machte er sie mit einem Paar bekannt, das an einem der hohen Fenster stand. Als er erwähnte, dass Lisa bei der Ausgrabungsstätte am Wadi Hirum arbeitete, war das Eis gebrochen. Andere Gäste gesellten sich zu ihnen, und alle wollten mehr über das Projekt erfahren.
Lisa wartete, bis sich eine Gelegenheit ergab, um die Aufnahmen für das Geburtstagsalbum zu machen. Sie nahm sich Zeit, die Gäste zu beobachten, und fing dann an zu knipsen. Dann sah sie sich suchend nach der Gastgeberin um, um auch sie zu fotografieren.
Endlich hatte sie sie entdeckt. Lisa wollte gerade die Kamera hochnehmen, als ihr plötzlich ein Mann in den Weg trat und sie ihr mit einem groben Ruck aus der Hand riss.
„He, was soll das?“, rief Lisa empört.
Sofort war Karim zur Stelle. Hastig redete er auf den Mann ein, woraufhin dieser die Kamera mit einer knappen Verbeugung zurückgab. Dabei ließ sein Blick Lisa keinen Moment lang los.
Sie untersuchte ihre Kamera, die zum Glück unbeschädigt geblieben war. „Hat er etwas gegen Fotoapparate?“, raunte sie Karim auf Englisch zu und bedachte den Mann mit einem ärgerlichen Blick.
„Nein. Er wollte nur sicherstellen, dass keine unerlaubten Fotos gemacht werden. Ich habe ihm erklärt, für welchen Zweck sie gedacht sind und dass die Familie damit einverstanden ist. Fotografieren Sie ruhig weiter.“
Karims Blick wanderte über die muntere Schar der Geburtstagsgäste. Die meisten davon kannte er, doch er wusste nicht, worüber er sich mit ihnen unterhalten sollte. Das oberflächliche Geplauder bedeutete ihm nichts. Nura hätte Spaß daran gehabt, mit all diesen Leuten den neuesten Klatsch auszutauschen.
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