Lockende Flammen
Frachtservice zu nutzen, war ich vor jeder internationalen Modenschau am Rande des Nervenzusammenbruchs. Natürlich malt man sich immer das Schlimmste aus und ist überzeugt, dass ausgerechnet das wichtigste Stück verloren geht oder so etwas.“
Leonora lächelte höflich, und Cristina lächelte zurück. Sie war älter als Leonora, Ende dreißig, Anfang vierzig vielleicht, aber so perfekt zurechtgemacht, dass man ihr Alter schwer schätzen konnte.
„Ich habe einige Stücke aus der Mailänder Kollektion mitgebracht, außerdem einen Coiffeur und eine Visagistin. Alessandro hat mir erzählt, dass Sie es eine ganze Weile nicht zu einem richtigen Friseur geschafft haben, weil Sie so viel zu tun hatten.“
Wenn Cristina mit einem „richtigen“ Friseur einen dieser Promifriseure meinte, die sich ein normaler Sterblicher gar nicht leisten konnte, ganz abgesehen davon, dass man sowieso keinen Termin bekam, hätte sie statt „einer ganzen Weile“ besser „noch nie“ sagen sollen. Aber es war sowieso egal, weil auch ein edler Haarschnitt und die dazu passende Garderobe sie nicht in eine jener Frauen verwandeln würde, mit denen sich Alessandro Leopardi normalerweise schmückte.
Na und? Sie wollte ja auch gar nichts von ihm. Daran erinnerte sich Leonora, während sie mit Cristina einen langen weißen Flur hinunterging. An dessen Ende betraten sie einen ebenfalls weißen Raum, der mit einem niedrigen schwarzen Tisch und einer schwarzen Sitzgarnitur möbliert war.
Gleich darauf gesellten sich zwei junge, ebenfalls schwarz gekleidete Verkäuferinnen zu ihnen. Die eine schob eine bewegliche Wand zurück, hinter der ordentlich aufgereiht alle möglichen Kleidungsstücke hingen.
„Am besten fangen wir mit den Basics an“, schlug Cristina munter vor. „Also mindestens eine Jeans. Die brauchen Sie unbedingt in Sizilien, besonders wenn Sie vorhaben, einen Ausflug in die nähere Umgebung des Ätnas zu machen. Kombiniert vielleicht mit einem leichten Blazer und einer Seidenbluse oder alternativ dazu ein paar T-Shirts.“
Während Cristina redete, nahmen die jungen Frauen Kleiderbügel mit den entsprechenden Kleidungsstücken von den Ständern und legten sie auf einen der Sessel.
„Bei Ihrer Ankunft möchten Sie natürlich gleich Eindruck machen. Da Sie groß und schlank sind, sind Sie ein Hosentyp. Diese helle Hose hier ist in meinen Augen perfekt. Dazu eine leichte Strickjacke, der Sie mit der Halskette hier und den dazu passenden Armreifen noch einen besonderen Akzent verleihen können. Alles sehr lässig und schick. So, das wäre der legere Teil. Jetzt kommen wir zu dem Cocktailempfang. Dafür habe ich etwas aus unserer Mailänder Kollektion mitgebracht. Hier, sehen Sie.“
Leonora machte große Augen, als sie das kurze schulterfreie Kleid aus lila und grauem Seidenchiffon mit dem gerafften Saum und dem eng anliegenden schulterfreien Oberteil sah, das von einem ebenfalls engen, taillenkurzen Jäckchen ergänzt wurde. Das alles war zweifellos sehr hübsch, aber nicht für sie. Leonora war für so etwas einfach nicht der Typ.
Deshalb schüttelte sie bedauernd den Kopf, während sie zu Cristina sagte: „Es ist wirklich ein Traum, aber ich fürchte, es passt nicht zu mir.“
„Nun, da bin ich völlig anderer Meinung“, widersprach Cristina. „Aber es spricht ja nichts dagegen, wenn wir es einfach ausprobieren, oder was meinen Sie?“
Zwei Stunden später stand Leonora erschöpft und verwirrt vor einem mannshohen Spiegel und bestaunte mit ungläubig angehaltenem Atem ihre neue Frisur. Da wo eben noch eine ungebändigte Mähne gewesen war, fiel das Haar jetzt glänzend und stufig nach unten, ein Schnitt, der ihre hohen Wangenknochen betonte und ihre Augen größer machte. Und das schulterfreie Chiffonkleid, in dem sie zerbrechlich und unfassbar feminin wirkte, stand ihr einfach toll.
„Es ist wie gemacht für Sie“, verkündete Cristina hochzufrieden. „Ich musste sofort daran denken, als Alessandro Sie mir beschrieb. Ich kann es Ihnen nur wirklich ans Herz legen, genauso wie das cremefarbene Abendkleid aus Satin. Sie haben die perfekte Figur dafür.“
Diesmal hatte Leonora keine Einwände. Nicht einmal in ihren kühnsten Träumen hätte sie sich je vorstellen können, dass sie so atemberaubend weiblich aussehen könnte. Und sogar in dem leichten zitronengelben Kleidchen fühlte sie sich wohl, das, kombiniert mit der hautengen hochgekrempelten Jeans, Cristinas Worten zufolge bei Ausflügen ins sizilianische
Weitere Kostenlose Bücher