Lockende Flammen
es schon so spät? Sie schlief doch sonst nie so lange. Das lag bestimmt daran, weil ihr vor heute so graute.
Sie überlegte, wann die Stilberaterin sie wohl abholen mochte, um die erforderliche Garderobe fürs Wochenende zu kaufen. Leonora verzog angewidert das Gesicht. Sie verabscheute Kleiderordnungen und deren Beschränkungen. Sie trug ausschließlich bequeme lässige Sachen.
Als wenig später die Außentür zur Suite geöffnet wurde, spannte sie sich an, doch die Aufregung war überflüssig. Es war nur Caterina mit dem Frühstück. Während Leonora ihr Müsli aß, versuchte sie sich die Stilberaterin vorzustellen. Wahrscheinlich war sie extrem dünn und gestylt wie eine der Heldinnen aus Sex and the City. Oder sie war wie diese einschüchternd eleganten Frauen, die in den teuersten Vierteln Londons einkauften und ihr oft begegneten, wenn sie zu einem ihrer reichen Schüler unterwegs war.
Nun, sie würde sich überraschen lassen. Im Grunde genommen war es egal – was man von dem, was gestern Abend vorgefallen war, ganz und gar nicht behaupten konnte. Wie hatte es bloß dazu kommen können? Leonora hatte einfach keine Erklärung dafür. Ihr war völlig rätselhaft, was sie dazu gebracht haben könnte, Alessandros Kuss so leidenschaftlich zu erwidern. Zumal er in Wirklichkeit genau der Typ Mann war, um den sie normalerweise einen großen Bogen machte.
Wie hatte sie sich bloß zu derart intimen Handlungen hinreißen lassen können? Was Sex anbetraf, spielten sie nicht einmal annähernd in derselben Liga, es war schlicht unfassbar! Wo sie doch immer befürchtete, ein Mann könnte entdecken, dass sie in ihrem Alter immer noch unschuldig war und sie anschließend der Lächerlichkeit preisgeben. Das war für sie stets Grund genug gewesen, um jeden Mann, der auch nur das geringste Interesse an ihr erkennen ließ, sofort zu vergraulen. Deshalb wurde ihr allein bei dem Gedanken an gestern Abend ganz schlecht.
Warum hatte sie es bloß nicht genauso gemacht wie praktisch jedes andere Mädchen in ihrem Umkreis? Spätestens an der Uni wäre es an der Zeit gewesen, die unerwünschte Bürde ihrer Jungfernschaft abzuwerfen. Aber sie war ja zu sehr damit beschäftigt gewesen, mit ihren Brüdern zu konkurrieren, und das war jetzt das Ergebnis.
Bisher war es immer Leo gewesen, dessen Hohn und Spott sie am meisten gefürchtet hatte, aber jetzt wurde ihr klar, dass Alessandro Leos Stelle eingenommen hatte. Sie überlegte, wie lange es gestern wohl gedauert hätte, bis die Wahrheit ans Licht gekommen wäre, angenommen, sie hätten weitergemacht. Hätte sie sich durch ihre Reaktion verraten, oder wäre es ihm erst hinterher klar geworden?
Wie immer die Antwort auch lauten mochte, auf jeden Fall benötigte Leonora nicht viel Fantasie, um sich seine Reaktion auszumalen. Mit Sicherheit fand er es unter seiner Würde mit einer Frau zu schlafen, die vor ihm noch kein anderer begehrt hatte. Er würde sie als minderwertig betrachten, vielleicht sogar als seltsam und verschroben. Männer wie Alessandro wollten immer nur, was andere Männer, mit denen sie sich maßen, ebenfalls hatten oder begehrten. Vor allem solche Männer wie er.
Genauso wie sie gefangen war in ihrer Rolle des Windfangs, war er getrieben von dem hartnäckigen Wunsch sich zu beweisen. Der einzige Unterschied zwischen ihnen beiden war vermutlich, dass sie selbst der Maske, die sie der Welt präsentierte, immer öfter überdrüssig war, während Alessandro sein Alter Ego liebte.
So tiefschürfende Gedanken gestattete Leonora sich nur selten. Weil sie zu schmerzhaft und zu verräterisch waren – besonders in Momenten wie diesen. Sie konnte einfach nicht ablassen von der Rolle, in die sie geschlüpft war, um mit ihren beiden Brüdern mithalten oder sie gar übertrumpfen zu können. Ihre Brüder hatten sie in dieser Rolle unwissentlich immer bestärkt, und jetzt war sie darin gefangen. Aus purem Stolz hielt sie bis zum heutigen Tag an dem Bild fest, das sie irgendwann einmal von sich entworfen hatte. Obwohl sie sich inzwischen längst danach sehnte, endlich einmal auch als Frau Anerkennung zu finden, aber das konnte sie aus irgendeinem Grund nicht einmal gegenüber ihrer Familie zugeben. Ebenso wenig wie sie es wagte, diejenigen, die ihr am nächsten standen, um ihre Hilfe und Unterstützung zu bitten, damit sie an jenen Punkt zurückkehren konnte, an dem sich der Wildfang in ein ganz normales Mädchen und schließlich in eine Frau hätte verwandeln
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