Lockende Kuesse
Mann!«
»Doch, ich fürchte mich. Er ist so riesig und grob und vulgär. Und sein kahl rasierter Schädel jagt mir eine Heidenangst ein.«
»Och, sein Aussehen täuscht, glauben Sie mir. Kann mir vorstellen, dass man Muffensausen kriegt, wenn man ihm nachts in 'ner dunklen Gasse begegnet, aber wenn man ihn erst kennt, weiß man, dass er ein richtiger Gentleman ist.«
»Ein Gentleman? So würde ich ihn nie bezeichnen! Was meinst du damit?«
»Sie sollten ihn mal im Hafen sehen, wie er da ist. Wenn ihm ein kleines Mädchen über den Weg läuft, schenkt er ihr eine Blume; einem kleinen Jungen drückt er ein paar Groschen in die Hand.«
»Im Ernst?«, fragte sie ungläubig.
»Ja, so ist der Käpt'n. Und jetzt essen Sie, bevor's eiskalt wird!«
Kitty zog den kleinen Schemel an den Tisch und schlug ihr gekochtes Ei auf. Der Tee schwappte immer wieder über den Tassenrand auf den Unterteller. Der Teller rutschte auf dem Tablett umher und das Tablett auf der Truhe. Diese schien wiederum auf und nieder zu schwanken, und mit einem Mal schwankte ihr Magen im Takt. Stöhnend presste sie sich die Hand auf den Mund. Sie fürchtete, sich gleich übergeben zu müssen, doch als die Übelkeit nicht nachlassen wollte, ja immer schlimmer wurde, begann sie zu fürchten, sich vielleicht gar nicht übergeben zu können und keine Erleichterung zu finden. Sie erhob sich, und als sie zu ihrem Bett ging, warf sich der Boden unter ihrem rechten Bein hoch auf und der unter ihrem linken sackte jäh ab. Am Ende erbrach sie sich in ihre Waschschüssel. Einen Moment lang schien wieder alles in Ordnung zu sein. Sie wischte sich den Mund an einem Handtuch ab und lehnte sich schwer atmend an die Wand. Dann rollte sie mit dem Schwanken des Schiffes hin und her, und schon wieder wurde ihr speiübel. Die Magensäure schoss ihr in den Hals, ein saurer Gestank drang in ihre Nase; erneut erbrach sie sich. Mit einem angeekelten Schaudern über ihren eigenen Gestank ließ sie sich erschöpft auf ihr Kojenbett zurücksinken.
Jemmy kam und brachte ihre stinkende Waschschüssel fort, obwohl sie darauf beharrte, dies selbst machen zu können. Sie trank ein wenig Wasser und legte sich dann wieder nieder. Ihr Zustand hielt noch den ganzen nächsten Tag an. Essen verweigerte sie vollkommen, nur ein wenig Wasser trank sie zwischendurch.
Später am Nachmittag kam Käpt'n Harding in ihre Kabine. »Sie brauchen ein bisschen frische Luft. Jetzt kommen Sie schon, raus aus dem Bett und rauf aufs Deck.«
»Bitte lassen Sie mich in Ruhe«, bettelte sie schwach.
»Nie im Leben. Sie gehen rauf aufs Deck und wenn ich Sie tragen muss.«
Da krabbelte sie mühsam aus der Koje. Langsam schleppte sie sich die Stufen zum Deck empor, und Käpt'n Harding, der hinter ihr ging, erhaschte verlockende Ausblicke auf ihre zierlichen Fußgelenke. Ohne Gewissensbisse streckte er die Hand aus und streichelte eines davon, doch Kitty fühlte sich so miserabel, dass sie nicht einmal protestierte. Der frische Wind klatschte ihr ins Gesicht! Sie kämpfte sich vor bis zur Reling und begann prompt wieder zu würgen. Sofort war er bei ihr. Mit einem Arm hielt er sie fest, mit der anderen Hand hielt er ihren Magen und prompt hörte dieser auf, sein Innerstes nach außen zu kehren. Er massierte ihre verkrampften Magenmus-kein, bis diese sich langsam zu lockern begannen. Obwohl ihr furchtbar übel war, wollte sie nicht, dass man sie in einem solch demütigenden Zustand sah. Als sie zu ihm aufblickte, sah sie, dass seine Miene voller Mitgefühl war, und sie war ihm dankbar für seine Hilfe. Sie hörte ihn murmeln, pauvre petite und dachte schwach, dass er zu unkultiviert war, um französisch sprechen zu können.
»Und jetzt«, sagte er forsch, »einmal ums Deck. Nehmen Sie meinen Arm. Will schließlich nicht, dass Sie über Bord gehen.«
Die Mannschaft verfolgte sie bei ihrem Spaziergang ums Deck mit unverhohlen lüsternen Blicken. Sie sahen mehr aus wie ein Haufen Verbrecher als Seeleute. Ein Mann stellte sich ihr direkt in den Weg; sie hätte um ihn herumgehen müssen, um nicht mit ihm zusammenzustoßen. Jim Hardings Arm schnellte vor, und schon lag der Mann flach auf dem Deck. Kitty sah, dass der Käpt'n Fäuste wie fleischige Schmiedehämmer hatte, und bei dem dumpf knackenden Geräusch, das es gab, als er den Mann umstieß, war ihr auch nicht gerade wohler geworden. Kein Wort fiel dabei.
Er blickte forschend in ihr Gesicht, ob sie vielleicht wieder ein wenig Farbe bekam, doch obwohl der
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