Lockende Kuesse
ein Paradox. Harte, grobe Schale; weicher, feinsinniger, sensibler Kern.
»Sind Sie verheiratet, Jim?«, erkundigte sie sich.
»Ich war's mal«, erwiderte er in sich gekehrt. »Sie war mir untreu. Ging gerne tanzen. Hat sich dann mit dem Kerl eingelassen, der sie zum Tanz ausführte.«
»Mit jemandem tanzen heißt nicht gleichzeitig untreu zu sein«, sagte sie sanft.
»Oh, ja, sie war mir untreu. Bin ihnen eines Nachts gefolgt, und hab ihn mit runtergelassenen Hosen erwischt! Hab ihn fast umgebracht. Haben ihn am nächsten Tag am Straßenrand gefunden. Dachten, er wär von der Postkutsche überrollt worden. Sie vermisse ich nicht, sie war 'ne Hure, aber meine Kinder fehlen mir unendlich.«
Sie blickte ihn voll Mitleid an und sah, dass er weinte.
Im zweiten Monat ihrer Seereise gerieten sie in einen Hurrikan. Jemmy kam in Kittys Kabine und fand sie elend in eine Ecke gekauert vor.
»Der Käpt'n hat mir befohlen, nach unten zu gehen, bis alles vorbei ist. Ich weiß, ich könnte mich oben ohne weiteres halten, aber Käpt'n Harding hält mich wohl für ein Fliegengewicht, das allzu leicht über Bord gespült werden könnte.«
So hockten sie über eine Stunde lang in der Kabine, bis Kitty es nicht länger aushielt. »Ich muss raufgehen und sehen, was los ist. Ich kann nicht länger wie eine Ratte im Käfig hier unten sitzen.«
»Da droben ist es viel zu gefährlich, Ma'am. Sie haben ja keine Ahnung, wie es da ist«, brüllte er ihr über das Tosen des Sturms hinweg zu.
Kitty öffnete dennoch die Kabinentür und kroch nach oben. Ihre Augen weiteten sich entsetzt, als sie eine Wasserwand sich berghoch vor dem Schiff auftürmen sah. Es sah aus, als ob das Schiff in einem tiefen Tal vor einem steilen Berg säße. Plötzlich und ohne Vorwarnung wurde alles auf den Kopf gestellt: das Schiff balancierte nun auf dem berghohen Wellenkamm und vor ihnen gähnte eine Schlucht, die sie zu verschlingen drohte, wenn das Schiff von dieser großen Höhe hinabstürzte. Kitty stand da wie angewurzelt, unfähig, auch nur ein Glied zu rühren. Ein entsetzliches Krachen ertönte, die Luft wie ein Donnerschlag zerreißend, und der Mast fiel unter dem lauten Schreien und Brüllen der Männer. Die entsetzlichen Schreie, bei denen einem das Blut in den Adern gefrieren konnte, hörten erst auf, als ein Revolverschuss erklang. Hastig wie eine nasse Ratte eilte Kitty wieder in ihren rettenden Käfig zurück.
Nach dem Sturm, als die See wieder ruhig war, ging Jemmy nach oben, um zu sehen, wie schlimm es stand. Als er zurückkam, erzählte er Kitty, dass der Mast umgestürzt sei und einen Mann unter sich begraben habe, den der Kapitän mit einem Schuss von seinen Leiden erlöst hatte.
»Mein Gott, wie kann er einen Mann einfach kaltblütig erschießen?«, schrie sie.
»Er musste. Er hatte keine Beine mehr und war halb auseinander gerissen!«
Der Kapitän schloss sich drei Tage lang in seiner Kabine ein.
Frühmorgens am dritten Tag nach dem Sturm nahm Kitty dem Kajütjungen das Frühstückstablett für den Käpt'n ab und trat nach einem flüchtigen Klopfen tief Atem holend ein. Ihr war längst nicht so wohl, wie sie glauben machen wollte. Big Jim saß auf dem Bettrand und litt offenbar unter einem gewaltigen Kater. Er wandte die Augen sofort wieder vom Essenstablett ab und sagte: »Das muss als Erstes weg!«
Wortlos stellte sie es vor der Tür ab und kam wieder herein: »Geht es Ihnen gut, Jim?«
»Ich hab einen Geschmack, als hätt ich 'nen toten Vogel im Mund.« Er zog eine Grimasse. Dann hievte er sich hoch und tapste zum Waschstand. Als er einen Blick in den Spiegel warf, polterte er: »Mein Gott! Meine Augen sehen aus wie zwei Pisslöcher im Schnee!«
Kittys Lippen zuckten. Die Iren konnten ganz schön vulgär sein, aber keiner verstand sich so sehr auf Grobheiten wie Big Jim Harding. Sie wusste, dass sie ihn jetzt allein lassen konnte und alles wieder seine alte Ordnung haben würde.
Einige Zeit darauf stellte Kitty zu ihrer größten Verzweiflung fest, dass ihre Geldbörse verschwunden war. Sie lief hinauf an Deck und konfrontierte den Kapitän vor seinen Männern. Er hätte sie verfluchen oder ihr befehlen können, sofort wieder nach unten zu gehen oder ihr gar eine Ohrfeige versetzen können, um ihre Tirade abzuwürgen, doch er tat nichts dergleichen. Stattdessen hob er sie hoch, gab ihr einen lauten Schmatz auf den Mund und trug sie anschließend hinunter in seine Kabine.
»Dreckiges Diebsgesindel! Räuber!«, kreischte
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