Lockende Kuesse
Kerl kann ich mir nicht vorstellen«, meinte er.
»Anständig?«, wiederholte sie.
»Tja, ich soll natürlich nicht damit hausieren gehen, aber er überbringt in diesem Augenblick geheime Botschaften unserer Regierung an Präsident Lincolns Regierung in Amerika. Dabei könnte er leicht seinen Kopf verlieren.«
Eine eiskalte Hand umkrallte ihr Herz. Patricks Worte kamen ihr wieder in den Sinn: »Ein letztes Mal ... dann werde ich dich nie wieder belästigen.« Er war doch nicht davon ausgegangen, dass er in den Tod gehen würde? Nein, niemals. Er hatte überhaupt nicht beunruhigt gewirkt, andererseits war das so seine Art - es schien ihm egal zu sein, ob er gewann oder verlor!
Drago Castle wirkte düster und bedrohlich, aber auch unheimlich faszinierend auf Kitty. Nur der Westflügel war bewohnbar. Der Rest war feucht, finster und unheimlich. Die Zimmerflucht, die Charles und Kitty benutzten, wurde Tag und Nacht mit Kaminfeuern beheizt, sodass es dort immer schön warm war. Katie und Mimi, die Dienstmädchen, die Kitty begleiteten, fürchteten sich in der riesigen feuchten Burg zu Tode und schworen Stein und Bein, dass hinter jeder Ecke ein Gespenst lauerte.
Charles sagte: »Als ich noch klein war, hatte ich auch immer schreckliche Angst in dieser Burg. Ich kann verstehen, wie ihnen zumute ist.«
»Ja, aber ich will nicht, dass sie Charles Patrick mit ihren dummen Ideen ängstigen. Ich werde dem ein Ende machen«, versprach sie.
Und keine zehn Minuten später tauchte Mimi wieder auf. »Ma'am, ich höre Schritte, die mir immer folgen, wenn ich etwas aus der Küche hole. Ich traue mich nicht mehr da hinein.« Sie zitterte. »Ah, ich sehe schon, ich muss dir die Geschichte von unserem Burggespenst erzählen. Charles Großvater hatte früher, als er noch klein war, einen richtig süßen kleinen Hund. Der war trotz seiner Größe so gefräßig, dass er dem
Hauspersonal immer folgte, wenn es etwas aus der Küche brachte. Bald war allen der Anblick so vertraut, dass ihnen bei den Mahlzeiten richtig etwas abging, wenn der kleine Hund nicht hinter dem Dienstpersonal hertrottete. Und nun sagt man, immer wenn jemand in die Burg kommt, der besonders tierlieb ist, hört er oder sie den kleinen Hund hinter sich hertrappeln.«
»Ach, wie süß! Das ist ja gar nicht gruselig, oder?«, sagte Mimi und ging beruhigt wieder in die Küche zurück.
Charles lächelte amüsiert. »Und was wurde aus dem süßen kleinen Hund?«
Kitty machte Krallen und knurrte ihn an. »Der Drache hat ihn gefressen!«
Charles lachte. »Ich denke, sie hat dir geglaubt.«
Mit einem Schulterzucken antwortete Kitty: »Die Leute glauben einem ja fast alles.«
Er musterte sie kurz. »Mich würdest du doch nie mit einer netten kleinen Geschichte abspeisen, oder, Kathleen? Du würdest mir doch immer die Wahrheit sagen?«
Sie betrachtete ihn schweigend, den Kopf ein wenig schief gelegt. »Nicht, wenn es dir das Herz brechen würde, Charles.«
Die Herbstluft war frisch und würzig. Kitty ritt täglich aus. Sie erlaubte ihrem Sohn schließlich, ein kleines Pony zu reiten. Charles dagegen nahm die Hunde und ging auf die Jagd. Kitty bemerkte, dass die frische Luft ihm anscheinend gut tat, denn er sah nicht länger erschöpft aus und wirkte überhaupt viel entspannter.
Kitty besuchte eine Frau mittleren Alters, die ein Waisenhaus leitete. Als sie ging, schämte sie sich, weil sie in London nur an sich selbst gedacht hatte und von einem Fest und einer Veranstaltung zur anderen gehüpft war. Im Geiste machte sie bereits Pläne für Wohltätigkeitsveranstaltungen, bei denen sie Geld für dieses und andere Waisenhäuser sammeln wollte. Sie kannte so viele Leute mit viel zu prallen Geldbeuteln, die wahrscheinlich sogar froh sein würden, ihr Geld für einen guten Zweck loswerden zu können. Sie stellte zwei Mädchen ein, die zur Burg kamen und um eine Anstellung baten. Danach kamen mehr, und sie fragte sich, wo sie mit all den Mädchen hinsollte. Sie fühlte sich ihnen gegenüber verpflichtet, das ließ sich nicht leugnen. Auch sie hatte einmal verzweifelt nach einer Anstellung Ausschau gehalten. Sie entschied sich schließlich, fünf von ihnen mit nach London zu nehmen, doch inzwischen hatte sich ihre Großzügigkeit herumgesprochen, und der Strom an lebenshungrigen jungen Damen wollte nicht mehr abreißen.
Charles schalt sie: »Es kommt mir schon so vor, als würdest du hier eine Stellenbörse leiten, meine Liebe.« Sie begann Briefe an ihre Freunde
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