Lockende Kuesse
Haustür. Der Butler, sonst so steif und förmlich, fing an zu lächeln, als er sie sah. »Miss Kitty, willkommen daheim. Miss Barbara und die Herrin werden jede Minute zu Hause sein. Machen Sie es sich doch derweil in der Bibliothek bequem, ich lasse Ihnen gleich etwas Tee bringen.« Er zögerte. »Sie werden leider nicht allein sein; da ist noch jemand in der Bibliothek ...« Kitty musste nicht mehr hören. Sie ließ ihr Bündel fallen und rannte atemlos über die Diele und in die Bibliothek. Den breiten Rücken und den schwarzen Haarschopf ihr zugewandt, hörte der Mann in der Bibliothek sie nicht kommen, bis sie rief: »Patrick! Gott sei Dank, du bist noch da!« Mit ausgestreckten Armen rannte sie auf ihn zu. Sir Charles Drago, der vor dem Kamin stand, wandte sich um und erblickte das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. Beim Anblick seines Gesichts breitete sich eine tiefe Verzweiflung auf ihren Zügen aus. Ihre Beine wurden zu Wachs, und sie wusste, dass sie in einen unentrinnbaren Abgrund sank. Sie kam zu spät! Die Wände schlössen sie ein, und der Boden kam ihr entgegen.
Charles sprang vor und fing sie instinktiv auf. Sie war ohnmächtig, und er blickte ihren hübschen, zarten Mund an, der nur Zentimeter von dem seinen entfernt war, sah die dichten schwarzen Wimpern, die halbmondförmig auf ihren bleichen Wangen ruhten, fühlte ihren weichen Körper, der wie leblos in seinen Armen hing, und jäh keimte sexuelle Erregung in ihm auf. Er war total verblüfft über seine Reaktion, weil er einen solchen Zustand schon seit über zwei Jahren nicht mehr hatte erlangen können und schon gefürchtet hatte, dass dieser Teil seines Lebens endgültig vorüber wäre.
Charles blickte Terrance, der soeben aufgetaucht war, hilflos an und sagte: »Warum ist sie ohnmächtig geworden? Ist sie krank?«
Leise erwiderte Terry: »Wir haben ihren Gatten erst gestern beigesetzt. Ich fürchte, es war alles ein bisschen viel für sie.«
Charles war überrascht. Das Mädchen erschien ihm nicht alt genug, um eine Ehefrau zu sein, geschweige denn eine Witwe.
In diesem Moment betraten Julia und Barbara die Bibliothek. Julia rief aus: »Sir Charles , wie schön, Sie wiederzusehen. Lieber Gott, was ist passiert?«
Barbara rief: »Oh, das ist Kitty!«, und blickte Terry hilflos und nach Erklärung suchend an.
Charles sagte: »Das arme Kind wurde einfach ohnmächtig, und ich weiß nicht einmal, wer sie ist.«
Julia, die Kitty schon seit Tagen erwartete, erwiderte vorsichtig: »Das ist Kathleen, unsere Cousine aus Irland, und das ist ihr Bruder, Terrance. Legen Sie sie hier aufs Sofa, Charles. Barbara, hol etwas Brandy. Was ist bloß los mit ihr?«
Noch einmal erklärte Terry: »Es gab einen Unfall. Simon wurde erschossen. Wir haben ihn gestern beerdigt.«
»Guter Gott, kein Wunder, dass sie krank ist«, sagte Julia.
»Ich glaube, sie kommt wieder zu sich«, sagte Charles, der Kittys Hände rieb und sie besorgt ansah. Sie öffnete die Augen und blickte in sein gütiges Gesicht. Es war offensichtlich, dass er sich große Sorgen machte.
»Bitte verzeihen Sie, es tut mir Leid, dass ich so viele Unannehmlichkeiten verursache. Ich dachte, Sie wären Patrick, und als Sie sich dann umdrehten, war ich so erschrocken, dass es jemand anders war, dass ich mich zum Narren gemacht habe, fürchte ich«, entschuldigte sich Kitty.
»Keineswegs, meine Liebe. Wir möchten Sie unseres aufrichtigen Beileids zum Tode Ihres Gatten versichern. Es ist nur der Schock, der sich manchmal erst verspätet zeigt. Geht es Ihnen jetzt wieder besser?«
»Sie sind sehr gütig«, flüsterte sie und dachte, was für ein sanfter Mann, und wie stark doch seine Hände sind.
Barbara reichte ihr ein Glas Brandy und sagte: »O Kitty, Patrick ist gestern in See gestochen. Du hast ihn verpasst, aber du musst dich jetzt ausruhen und wieder erholen. Du wirst sehen, er ist wieder da, noch bevor dein Trauerjahr um ist.«
»Dann ist Patrick also wieder nach Amerika gesegelt, hm? Dann habe ich ihn also auch verpasst«, sagte Charles bedauernd.
Julia, die sich Sir Charles' Stellung sehr wohl bewusst war, sagte: »Ich hatte keine Ahnung, dass Sie wieder in England sind. Ist Ihre Amtszeit als Gouverneur von St. Kitts denn schon vorbei?«
»Nein, ich fürchte, ich habe noch ein weiteres Jahr zu dienen, bevor ich endgültig in die Heimat zurückkehren kann. Unglücklicherweise bin ich hier, weil mein Vater im Sterben lag. Wir haben ihn vor zwei Tagen in Irland zu Grabe
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