Lockende Versuchung
unwiderrufliche Trennung von Edmund stürzte sie jedes Mal in unsagbare Verzweiflung.
Ach, genug davon. Julianna erhob sich seufzend, zog einen Schlafrock über und schlüpfte in die seidenen Pantoffeln. Sie musste endlich wissen, ob Edmund etwas für sie empfand. Irgendwann würde er ja wohl nach Hause kommen, und vielleicht würde er ehrlicher antworten, wenn sie ihn mit dieser Frage überraschte.
Im Hause war es totenstill. Ein kurzer Blick in Edmunds Schlafzimmer zeigte Julianna ein unberührtes Bett. Als sie von der Galerie aus in die Eingangshalle spähte, entdeckte sie neben einer fast völlig heruntergebrannten Kerze den schlafenden Brock in einem Armstuhl. Demnach konnte Edmund in der Tat noch nicht heimgekehrt sein.
Während sie leise die Stufen hinunterstieg, schlug die große Standuhr in der Halle die dritte Stunde. Bei diesem Geräusch bewegte sich Mr Brock unruhig. Julianna rüttelte ihn sacht an der Schulter.
„Brock, geht schlafen. Da ich ohnehin aufgewacht bin, kann ich auch auf Sir Edmund warten.“
Der alte Mann rappelte sich empor. „Nein, nein, Ma’am, nicht nötig. Ich habe nur ein bisschen gedöst.“ Er blickte mit geröteten Augen, unter denen tiefe Schatten lagen, zu ihr auf.
„Wie oft ist er in dieser Woche so spät nach Hause gekommen?“, fragte Julianna in einem Ton, der keine Ausflüchte erlaubte. „Dreimal? Fünf? Sechs?“
„Nein, nicht sechsmal. Nur viermal.“
„Und immer bis zum frühen Morgen?“
Noch ehe Brock antworten konnte, wurde die Haustür aufgerissen, und Edmund trat mit unsicheren Schritten ein. Erst unmittelbar vor Julianna erkannte er die Wartende und fand vor Überraschung sogar sein Gleichgewicht wieder.
„Guten Morgen“, sagte Julianna mit gespieltem Gleichmut.
Edmund trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Guten Morgen, meine Liebe. Du bist ja heute schon so früh auf den Beinen.“ Sein Versuch zu lächeln ergab lediglich ein albernes Grinsen, und auch seine Absicht, sich in einem großen Bogen zur Treppe zurückzuziehen, wurde ihm sofort durchkreuzt.
„Das ist nicht ganz korrekt ausgedrückt.“ Resolut stellte sich Julianna ihm in den Weg. „Du bist sehr spät auf den Beinen, wäre richtiger.“
Als Edmund einen verstohlenen Blick auf die Uhr warf, fuhr sie ärgerlich fort: „Du kommst und gehst seit Tagen, wie es dir passt. Mrs Davies weiß nie, wann das Essen auf den Tisch gebracht werden soll, und Brock sitzt halbe Nächte hindurch auf, um auf dich zu warten. Seit wann gehst du so rücksichtslos mit deinem Gesinde um?“
Edmund kniff die Augen zusammen. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck trunkener Streitsucht, den Julianna bisher nur bei Jerome kennengelernt hatte. Es schmerzte sie tief, Edmund so zu sehen.
„Ich bin vom ersten Tag meines Lebens an ohne Mutter gewesen“, knurrte Edmund böse, „und ich sehe keinen Anlass, diesen Mangel jetzt noch zu beheben.“ Grob schob er Julianna zur Seite und stieg polternd die Treppe empor.
„Wenn du so weitermachst“, rief Julianna ihm nach, „brauchst du in der Tat keine Mutter, sondern einen Aufseher.“
„Ach, lass gut sein, Mädchen“, murmelte Brock schläfrig. „Was ein Mann im Rausch sagt, meint er nicht so.“
Betroffen senkte Julianna den Kopf. Auch sie hatte im trunkenen Zustand etwas ausgesprochen, das nüchtern nie über ihre Lippen gekommen wäre. Es hatte wohl keinen Sinn, jetzt auf einer Aussprache mit Edmund zu bestehen. Mutlos machte sie sich auf den Weg in ihr Zimmer.
Als sie dabei an Edmunds Tür vorüberkam, erklang dahinter ein einziger trockener Schluchzer, der herzzerreißender war als das Weinen einer Frau. War Edmund etwa gar auch so innerlich zerrissen wie sie selbst? Ohne nachzudenken stürzte sie in das Zimmer und hockte sich vor Edmund auf den Boden.
„Sag mir doch, was ist, Edmund.“ Kaum konnte sie ihrer Tränen Herr werden angesichts der Qual, die in seinen Augen lag. „Ist es meinetwegen? Es tut mir alles so leid. Glaube mir, ich habe es wirklich nicht gewollt.“
Edmund sah sie an und erkannte das zartfühlende Mitleid in ihrem Blick. Mehr als dieses Mitleid hatte sie nicht für den älteren Mann, mit dem sie vor dem Traualtar verbunden worden war.Er war ein Narr gewesen, auf mehr zu hoffen.
„Verschwinde!“, schrie er. „Ich habe dich nicht zu mir eingeladen, und ich will verdammt sein, wenn du willkommen bist.“
„Bitte, Edmund, schicke mich nicht weg“, flehte Julianna. „Lass uns miteinander reden.“
„Lass mich in
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