Lockende Versuchung
Sattel auf den ersten Blick, und sie nahm ihn sofort für sich in Anspruch. Und bei den abendlichen Unterhaltungen führte sie allein das Szepter.
Am meisten aber war Juliannas walisisches Blut in Wallung geraten, als Vanessa auch noch wie selbstverständlich die Hauptrollen bei der Lesung von Theaterstücken übernahm. Einen Makel an ihrer sonstigen Vollkommenheit konnte sie dabei allerdings nicht verbergen: Im Gegensatz zu ihrem Vetter Edmund war die Countess of Sutton-Courtney gänzlich unmusikalisch und absolut unfähig zu singen. Da sie für diese Talentlosigkeit jedoch völlig blind war, stellte sie ihr Unvermögen zu Juliannas geheimer Belustigung immer und immer wieder zur Schau.
Wenn man Vanessa reden hörte, musste man zu der Überzeugung kommen, sie stehe mit jeder Person von Rang und Namen in London auf freundschaftlichem Fuße. Ihre Hinweise auf Juliannas Jugend waren nach wie vor ebenso häufig wie die mit flatternden Wimpern und neckenden Seitenblicken ausgestatteten schmeichelhaften Aufmerksamkeiten für ihren Vetter. Edmund schien die unverhüllte Koketterie seiner Cousine zu amüsieren, und er beantwortete sie mit schwülstigen Komplimenten über ihre Augenbrauen oder ihre Handgelenke. Zum Teufel mit ihm und mit dieser falschen Katze!
„Ma’am!“ Myrtle Tullys Stimme holte Julianna in die Gegenwart zurück. „Ma’am, wenn Ihr nicht aufhört, den Teig so zu knuffen, wird sich die alte Gevatterin Drummond den letzten Zahn ausbeißen, wenn sie in das Brot beißt.“
Julianna warf der Haushälterin einen schuldbewussten Blick zu. „Ihr habt recht, Mrs Tully. Ich habe meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge gerichtet, und das ist beim Kochen und Backen sehr gefährlich.“
Doch obwohl sie mit ihrem Brotteig nunmehr etwas zarter umging, kehrten ihre Gedanken doch wieder zu Edmund und Vanessa zurück. Was scherte es sie schließlich, wenn diese Kokotte ihrem Gemahl schöne Augen machte? Er war doch nicht wirklich ihr Ehemann. Aber ungeachtet dessen erboste Julianna die Vorstellung, dass sich Vanessa voller Schadenfreude daran ergötzte, ihr Edmund abspenstig machen zu können.
„Nun pass aber mal auf, Mädchen!“, tadelte Mrs Tully Julianna unverblümt, als sei sie eine Küchenmagd und nicht die Hausherrin. „Ihr habt Euch den Arm am Wasserkessel verbrannt, zwei meiner guten Teller zerschlagen, und das Brot, das ihr da backt, kann man wahrscheinlich nur zum Schweinefüttern verwenden. Seit der Herr weg ist, lauft ihr geistesabwesend herum und blastTrübsal. Wenn Ihr es keine zwei Tage ohne ihn aushaltet, hättet Ihr mitfahren sollen.“
Mit einem ärgerlichen Seufzer wedelte sie mit ihrer Schürze, als wolle sie eine Gans hinausscheuchen. „Wenn Ihr Euch nicht in der Küche aufhalten könnt, ohne Schaden anzurichten, dann verschwindet und lasst mich meine Arbeit in Ruhe machen.“
„Sei doch nicht gleich so böse, Myrtle“, schmeichelte Julianna. „Ich kenne mich in letzter Zeit selbst nicht mehr. Aber ich verspreche, dir aus dem Weg zu gehen, bis ich wieder meine fünf Sinne beisammen habe.“
„Schon gut, meine Liebe, ist ja alles nicht so schlimm. Geht nur, geht. Gwenyth und ich sehen schon nach Euern Broten.“
Geistesabwesend herumlaufen und Trübsal blasen! Mrs Tully war für Juliannas Geschmack etwas zu scharfsichtig. In der Tat begann Edmund ihr mehr und mehr zu fehlen, so sehr sie anfangs auch darauf bedacht gewesen war, ihn für einige Zeit nicht im Hause zu haben. Ohne die abendlichen Plaudereien erschien ihr das Leben ziemlich eintönig, und unter diesen Umständen versprach Laurence Bayards Visite zwei Tage nach Edmunds Abreise eine willkommene Abwechslung, zumal seine Schwester ihn nicht begleitete. Vanessa hatte ihre bisherigen Zusammenkünfte derartig beherrscht, dass sie sich noch gar kein rechtes Bild von dem jungen Lord hatte machen können. Vor allem konnte sie sich nicht erklären, warum Edmund so wenig für ihn übrighatte, während er hartnäckig eine gute Meinung über diese Schlange von einer Countess vertrat.
„Wie schön, Euch zu Hause anzutreffen, Cousine Julianna! Ich bin nämlich genauso mir selbst überlassen wie Ihr, und so können wir uns zusammentun und uns Gesellschaft leisten. Es ist zwar ziemlich lästig, ständig von einer Schwester bemuttert zu werden. Aber wenn sie dann fort ist, hinterlässt sie doch eine gewisse Leere.“
Julianna konnte sich unschwer vorstellen, dass ein andauerndes Umsorgt werden durch die verwitwete Countess of
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