Lockruf Der Leidenschaft
Gegenwart die schmutzigen Erinnerungen gänzlich verbannen.
Als der Herzog sich angekleidet hatte, trat er wieder zum Kaminsims und nahm das Schriftstück, das die vergangenen sieben Nächte über dort gelegen hatte. Nachdenklich klopfte er damit in seine geöffnete Hand und musterte das Wesen auf dem Bett. »Außergewöhnlich«, murmelte er und schüttelte den Kopf. »Und so jemand liefert sich freiwillig einem so abgeschmackten Gefühl wie der Liebe aus.« Er trat ans Bett und ließ das Dokument in die Tasche seines Gehrocks gleiten. »Ein Abschiedkuss, süße Rose. Es ist meine letzte Forderung.« Endlich schloss sich die Tür hinter ihm. Polly sprang mit einem Satz aus dem Bett, kleidete sich in aller Eile an und zog ihren Umhang fest um sich. Das Haus roch nach abgestandenem Alkohol, schalem Rauch und einigen wesentlich weniger appetitlichen Überresten. Ein zerlumptes, mageres Mädchen mit triefender Nase und rissigen, blau gefrorenen Händen kippte einen Eimer kaltes Wasser über eine Pfütze von Erbrochenem, das sich in der Ecke des Treppenabsatzes angesammelt hatte. Polly zog ihre Röcke zur Seite und eilte rasch daran vorbei. Der grummelnde Türsteher spie etwas Schleim auf den mit Sägemehl bestreuten Boden und zerrte die Riegel der Tür zurück, die auf die Straße führte.
»Es würd einem ja schon helfen, wenn Ihr wenigstens zusammen runterkämt!«
Dieselbe Beschwerde hatte sie auch schon an den vergangenen sechs Morgen gehört. Buckingham hatte das Haus stets vor Polly verlassen - er war lediglich ein weiterer Kunde, der seine Hure dort zurückließ, wo sie hingehörte -, und jedes Mal verriegelte der Türsteher hinter ihm die Tür und grummelte unwirsch, wenn er sie fünf Minuten später erneut öffnen musste. Polly ignorierte ihn heute ebenso wie auch schon an den vergangenen Tagen. Auf der Straße atmete sie tief die wiedergewonnene Freiheit ein. Als Erstes würde sie Geist und Körper vom Schmutz dieser Nächte befreien. Sie war kein besonders zartes Pflänzchen, das durch derlei Dinge zerbrochen wurde. Polly lief los, sog die Luft in tiefen Zügen in ihre Lungen und genoss den eisigen Schmerz, den sie in ihrem Körper auslöste. Susan, die ihre Herrin wie gewohnt bereits vom Salonfenster aus erblickt hatte, öffnete ihr die Tür, noch ehe sie anklopfen konnte. Polly dankte ihr und lehnte sich keuchend gegen den Pfosten des Geländers, bis sie wieder zu Atem gekommen war.
»Das Bad ist schon fertig«, sagte Sue. »Und auch Mylord De Winter wartet oben auf dich.« Noch immer ein wenig außer Atem stieg Polly die Treppe hinauf. Neben dem Kamin wartete Richard auf ihre Rückkehr, ebenso wie an den vergangenen fünf Morgen, seit Polly ihm von Buckinghams Handel berichtet hatte. Forschend blickte er sie an. »Es ist vollbracht?«
»Ja.« Sie nickte, trat ans Feuer und streckte ihre Hände den wärmenden Flammen entgegen. »Es ist vollbracht, Richard. Er wird sein Wort doch nicht brechen?«
»Gütiger Gott, nein!« Richard umfasste ihr Kinn und hob es ein wenig an. »Und du, Kind?«
»Bin kein Kind«, entgegnete Polly mit einem schwachen Lächeln. »Aber ich bin noch heil. Die Narben gehen nicht allzu tief.«
Noch immer musterte Richard sie mit gerunzelter Stirn, ehe er langsam nickte. »Dann ist es ja gut. Trotzdem wünschte ich, du hättest auf meinen Ratschlag gewartet, ehe du dich auf die Sache eingelassen hast. Vielleicht hätte ich dir diese vergangenen Nächte dann ersparen können.«
Polly zuckte lediglich die Achseln. »Selbst wenn Ihr das gekonnt hättet, Richard, wäre es doch eine quälend lange Zeit geworden. Auf diese Weise ging es schneller, und innerhalb eines Tages wird Nick wieder frei sein. Genau genommen -«In diesem Augenblick kam ihr ein erregender, wenngleich auch etwas beängstigender Gedanke »vielleicht sogar schon binnen dieser Stunde! Ich muss baden. So kann ich ihn doch nicht empfangen, mit diesem ... diesem ...« Mit einer angewiderten Geste deutete Polly an sich hinab. »Und auch Euch darf er hier nicht vorfinden, Richard, nicht um diese Uhrzeit. Das würde ihn doch gewiss sehr wundern.« Polly schob Richard zur Tür. »Nichts darf seinen Verdacht erregen.«
Richard stemmte sich gegen den wenig gastfreundlichen Druck ihrer Hände in seinem Rücken. »Hat Buckingham geschworen, Stillschweigen über die Sache zu wahren?«
Das Leuchten in ihren haselnussbraunen Augen erlosch schlagartig. Niedergeschlagen schüttelte Polly den Kopf. »Ich habe vergessen, ihn darum zu
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