Lockruf Der Leidenschaft
bitten.«
»Dann solltest du aber unbedingt dem Ratschlag eines Freundes folgen, der Nick schon sehr lange kennt, und ihm die Situation unverzüglich erklären«, entgegnete Richard scharf.
»Ich will aber nicht, dass er davon erfährt«, widersprach Polly gereizt. »Ich will nicht, dass er dieselbe Hölle durchmachen muss wie ich, weil er dann glaubt, er sei verantwortlich dafür. Könnt Ihr das denn nicht verstehen?« Richard seufzte. »Aber stell dir nur vor, was passiert, wenn er es von Buckingham oder durch den Klatsch am Hofe erfährt. Wie kannst du glauben, dass Buckingham das Geheimnis für sich behält? Dazu hat er doch überhaupt keinen Grund.«
»Ebenso wie er keinen Grund hat, es zu erzählen«, wandte Polly ein. »Ich kann mich einfach nicht dazu überwinden, es ihm zu erzählen, Richard.« Sie zitterte ein wenig. »Vielleicht wenn all das eine Weile zurückliegt, aber nicht jetzt.«
Sie sah blass aus, zerbrechlich. Tief hatten sich die sieben schlaflosen Nächte in ihr Gesicht eingegraben und verliehen der sonst vor Leben sprühenden Schönheit eine ätherische Aura. Darüber hinaus war Polly an drei Nachmittagen während dieser entsetzlichen Woche auch noch im Theater aufgetreten, und nur drei Menschen im Publikum hatten gewusst, welche übermenschliche Anstrengung sie dies gekostet hatte: Thomas Killigrew, weil nur er eine professionelle Schauspielerin noch zu durchschauen vermochte, außerdem Buckingham und Richard. Polly war nahe daran gewesen zusammenzubrechen, und auch jetzt noch stand sie gefährlich nahe an diesem Abgrund.
Richard kam zu dem Schluss, dass es unklug wäre, das Thema noch weiter zu verfolgen. Ihre Erschöpfung würde Nick der Sorge zuschreiben, und vielleicht würden sie ein paar Tage das Haus nicht verlassen. Nick hatte gewiss nicht das Bedürfnis, sich sofort wieder in der Gesellschaft zu zeigen, und wenn er endlich dazu bereit wäre, hatte Polly vielleicht die Kraft gefunden, ihm alles zu erzählen.
»Dann überlasse ich dich jetzt deinem Bad«, entgegnete De Winter und nahm seinen Mantel. »Und ein oder zwei Stunden Schlaf könnten dir jetzt auch nicht schaden.«
»Ohne Eure Kraft hätte ich das nicht geschafft, Richard«, sagte sie leise.
Er lächelte. »Da unterschätzt du dich aber, meine Liebe. Du hättest in jedem Fall getan, was du für richtig hieltest, ob nun mit oder ohne meine Unterstützung.« De Winter beugte sich hinab und küsste sie auf die Wange. »Nicholas kann sich sehr glücklich schätzen.«
Nicholas stand auf dem von einer Brustwehr umschlossenen kleinen Rundgang vor seiner Zelle. Zum Schutz gegen den heftigen Wind, der von der Themse herüberwehte, hatte er den Mantel fest um sich geschlungen. Unterhalb der Brustwehr strömte der graubraune Fluss entlang. Obwohl er einer der Hauptverkehrswege war, auf denen die Menschen ihren Geschäften entgegeneilten und unmittelbar unter der Towerbrücke hindurchfuhren, schenkten sie den Insassen selbst nur wenig Aufmerksamkeit. Vielleicht blickten sie kurz zum Verrätertor hinauf, wo der grüne Schleim des Flusses an den Stufen klebte und das Wasser gegen die Fallgitter klatschte. Und vielleicht dachten sie sogar einen winzigen Augenblick an all jene, die ebenfalls diese traurige Flussfahrt unternommen hatten und durch dieses Tor in das große, düstere Gefängnis eingetreten waren, das sie erst wieder für den Weg zum Schafott auf dem Towerhügel verlassen würden.
Das war ein höchst düsterer Gedanke, doch Nick sah nur wenig Anlass zur Freude. Natürlich hatte er das Gefängnis nicht durch das Verrätertor betreten müssen, doch wurde er ebenso sicher verwahrt wie alle anderen. Er wusste nach wie vor nicht genau, wie die Anklage gegen ihn lautete, sodass er sich auch keine entsprechende Verteidigung zurechtlegen konnte.
Er wandte sich um und blickte über die andere Seite der Brustwehr in den großen Innenhof des Towers hinab, wo sich die legendären schwarzen Raben balgten, ihre Runden flogen und mit der Selbstsicherheit derer herumstolzierten, die diesen Ort schon länger bewohnten als jedes menschliche Wesen. Selbst zu dieser frühen Stunde spielte sich bereits eine belebte Szene ab, Wachen und Diener gingen eilends ihren Verpflichtungen nach, Soldatentrupps reagierten gehorsam auf laute Befehle, Herolde und livrierte Boten ritten auf Pferden durch das Tor ein und aus. Plötzlich erschien der Gefängnisdirektor und kam raschen Schrittes über den quadratischen Innenhof. Er hob den Blick, blickte
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