Lockruf Der Leidenschaft
alles wieder zunichte zu machen.« Mit einem schelmischen Blitzen in den Augen und in der Hoffnung auf ein zustimmendes Blinzeln versuchte Polly, Nicks Aufmerksamkeit zu erregen.
»Ja, das wäre es«, entgegnete er, wenn auch mit völlig nüchterner Stimme, obwohl er sich im Stillen fragte, was wohl das wahre Motiv hinter diesem bezaubernden Blick gewesen sein mochte. Denn diesen Blick hatte er noch nie an ihr gesehen - der war weder die dreiste, unverhohlene Ermunterung des Tavernenflittchens noch das ungekünstelte und schelmische Lächeln, das sie besaß, wenn sie sich in Sicherheit glaubte. »Und eine Wiederholung des Theaters von heute Morgen ertrage ich mit Sicherheit nicht noch einmal, nur um dich ein zweites Mal sauber zu kriegen«, bemerkte Nicholas halb im Scherz und halb in der Hoffnung, dass es Polly dazu brachte, einen etwas weniger betörenden Gesichtsausdruck aufzusetzen. Es funktionierte.
»Dann poliere ich wohl doch lieber Silber.« Polly zog eine Grimasse, die den beiden Männern ein wenn auch etwas unfreiwilliges Lächeln entlockte. »Wie lange brauche ich wohl, bis ich das Alphabet gelernt habe?« »Das hängt ganz davon ab, von wie rascher Auffassungsgabe du bist und wie hart du zu arbeiten bereit bist«, antwortete Nick.
»Fangen wir an.« Er setzte sich und deutete auf den Stuhl neben seinem Lehnsessel.
Mit der Fußspitze schob Polly den Stuhl noch ein wenig näher an Nicks Sessel heran, sodass seine Knie die ihren beinahe berührten. Lässig legte sie einen Ellenbogen auf die Lehne seines Sessels und lächelte mit dem Ausdruck aufmerksamer Wissbegier zu ihm auf.
Nick atmete tief durch. Wenn er sich nicht irrte, kokettierte Polly aus irgendwelchen zweifellos fragwürdigen Beweggründen mit ihm. Er packte ihren Arm, legte ihn mit Nachdruck in ihren Schoß zurück und blickte sie mit ausdrucksloser Miene an. »Das Lesen wirst du nicht aus meinem Gesicht lernen, Polly. Das Buch liegt auf dem Tisch.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die erste Seite.
Ich bin offenbar nicht gerade eine Expertin, dachte Polly niedergeschlagen, wenn es darum geht, einen Mann geschickt zu ermuntern. Andererseits war dies eine vollkommen neue Situation für sie, schließlich hatte sie noch nie zuvor die Aufmerksamkeit von Männern auf sich lenken müssen, sondern hatte ihr stattdessen stets zu entgehen versucht. Es schien also noch eine ganze Menge Dinge zu geben, die sie in ihrem neuen Leben zu lernen hatte.
Polly wandte ihre Aufmerksamkeit den Hieroglyphen auf der aufgeschlagenen Seite zu und versuchte, Nicks Zeigefinger zu folgen und sich auf seine leise, ruhige Stimme zu konzentrieren.
Nach einer Stunde war beiden Gentlemen klar, dass sie eine recht begabte Schülerin vor sich hatten. Nick warf Richard über den gebeugten honigblonden Kopf hinweg einen kurzen Blick zu, der einmal nickte. Dann setzte er sich auf, während seine zuvor so träge anmutende Haltung jenem entschlossenen, resoluten Auftreten wich, das Nick so gut an ihm kannte. »Polly, was weißt du eigentlich vom königlichen Hof?«
Richards Frage traf sie völlig unvorbereitet. Außerdem erschien sie ihr auch ziemlich dumm. Was sollte sie schon vom Hof wissen? Sie schaute von dem Blatt Papier auf, auf dem sie gerade mühsam die Buchstaben des Alphabets von Nicks Original abschrieb. »In Botolph Lane haben wir nicht allzu viel vom Hof zu sehen bekommen«, antwortete sie, während ihre Grübchen erschienen. »Aus irgendeinem unerfindlichen Grund hat der König die Schenke »Zum Hund« noch nie besucht.«
Einen kurzen Moment lang herrschte Schweigen. Nick beugte sich zum Kaminfeuer hinunter und ließ eine schlanke Kerze aufflammen, um seine Pfeife damit zu entzünden, ehe er sie durch ein wohlriechendes Rauchwölkchen ansah, das zur Decke aufstieg. »Das war eine ziemliche schöne Unverschämtheit, du rotz-nasige Göre. Du wirst noch einiges mehr lernen müssen als nur das Alphabet, wenn du dich in der Welt, die du dir ausgesucht hast, zurechtfinden willst. Du wirst lernen müssen, dass unverblümte Grobheiten durch nichts zu entschuldigen sind. Du wirst niemals von irgendjemandem auch nur die leiseste Unhöflichkeit hören, egal, für wie berechtigt derjenige sie auch halten mag. Stattdessen wirst du wohlklingende Komplimente hören, die aber nichts zu bedeuten haben. Du wirst mit sanften Worten und einem liebenswürdigen Lächeln vorgetragene Beleidigungen zu hören bekommen. Du wirst hören, wie mit scheinbar freundlichen Worten Klatsch
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