Lockruf Der Leidenschaft
Umhangs.
»J-ja, aber selbstverständlich, Sir«, antwortete Polly, während ihr auffiel, wie grotesk höflich und förmlich sie klang. »Werdet ... werdet Ihr heute Nacht hier bleiben?«
»Nun, ja.« Er strich sich nachdenklich übers Kinn. »Wenn man mich dazu auffordern würde, wäre ich wohl geneigt, die Einladung anzunehmen. Es ist schließlich eine recht ungemütliche Nacht, es droht ein Schneesturm ...« Um Pollys Lippen zuckte es. Sie blickte durch ihre dichten Wimpern zu ihm auf und vollführte einen tiefen Knicks, wobei sie sich auf eine Ferse sinken ließ und den anderen Fuß anmutig auf die Zehenspitze aufsetzte. »Ich bitte Euch inständig, in meiner bescheidenen Unterkunft Schutz zu suchen, Mylord. Ich hätte keine ruhige Minute bei dem Gedanken, dass Ihr draußen durch einen solchen Schneesturm irrt.«
»Ich wäre Euch auf ewig dankbar, Madame.« Nicholas unterstrich seine Ehrbezeugung durch einen eleganten Kratzfuß. Polly dagegen, überrumpelt von ihrem übermütigen Gekicher, verlor das Gleichgewicht und landete mit einem alles andere als würdevollen Plumps auf dem Boden, sodass Nick ihr beim Aufstehen helfen musste. »Was für eine jämmerliche Vorstellung«, rügte er sie. »Ich dachte, ich hätte dich gelehrt, deinen Hofknicks mit etwas mehr Anmut auszuführen.« Damit zog er sie in seine Arme, hob ihr Kinn an und nahm den Anblick ihres bezaubernden Gesichts in sich auf. Nur zu deutlich spürte er unter seinen Händen ihren geschmeidigen Körper, sah in Gedanken wieder das Bild ihrer nackten Gestalt vor sich.
»Ich will dich.« Der nackte Hunger in seinen Augen erstickte jedes Gelächter im Keim. In diesem Moment ertönten Schritte hinter der Tür, und in ihre verzauberte Zweisamkeit drängten sich der würzige Duft nach gebratenem Hammel und die vergnügte Aufforderung von Mrs. Benson, sich zu Tisch zu setzen. »Und wieder muss die Vorfreude den Appetit noch ein wenig anregen«, sagte Nicholas mit einem bedauernden Lächeln. »Doch das Essen wird dir gut tun. Denn Liebe mit knurrendem Magen lässt doch immer ein wenig zu wünschen übrig.« Damit drängte er Polly sanft in den Salon, wo der Hammel verführerisch auf der Anrichte dampfte und auf dem Tisch ein Tablett mit bereits geöffneten Austern wartete, die im Kerzenlicht perlgrau schimmerten.
Nicholas bot Polly einen Stuhl an, entfaltete eine leinene Serviette in ihren Schoß, goss Wein in ihren Becher und nahm ihr gegenüber Platz. Trotz all der bisherigen Ungezwungenheit zwischen ihnen war dies das erste Mal, dass sie in seiner Gesellschaft zu Tisch saß. Bislang hatte es außer Frage gestanden, dass das Verhältnis zwischen ihnen beiden von den Begriffen Lehrer und Schülerin, Herr und Dienerin bestimmt wurde. Doch nun war Polly auf unerklärliche Weise plötzlich nervös, als sei sie nur durch einen Irrtum in den Genuss all dieser Aufmerksamkeiten gekommen, die eigentlich für eine ganz andere Frau gedacht waren als für ein Newgate-Balg unbekannter Herkunft. Doch dann besann sie sich darauf, dass sie Schauspielerin war und sein konnte, wer immer sie sein wollte. Sie prostete Nicholas mit erhobenem Glas zu, und ihre Lippen verzogen sich zu einem zarten Lächeln. Nick nahm diese atemberaubende Vorstellung in all ihren Facetten in sich auf und hatte nur wenig Zweifel daran, welche Motive wohl dahinter steckten. Auch er erhob sein Glas. »Meisterhaft«, sagte er anerkennend. »Du weißt dich gut in ungewohnte Situationen einzufügen. Das ist ein Talent, das dir in den kommenden Wochen noch wertvolle Dienste leisten wird.«
Polly schlürfte eine Auster aus ihrer zerklüfteten Schale. Nun war die Situation wieder vollkommen entspannt, und Seine Lordschaft sprach wieder in dem gewohnt gelassenen Tonfall - als hätte er nicht gerade eben mit einer solchen Intensität so leidenschaftliche Worte von sich gegeben. Die lockere, ungezwungene Atmosphäre sorgte dafür, dass Polly sich dem Abendessen in Ruhe widmen konnte. Unter dem wohltuenden Einfluss von gutem Essen, gutem Wein, von Wärme und heiterer, ungezwungener Gesellschaft wich schließlich alle Besorgnis von ihr. Nicholas bemerkte befriedigt, wie Polly sich allmählich entspannte. Er selbst war weit von einem derartigen Zustand entfernt, auch wenn seine Gefährtin aus seinem Verhalten nur schwer ermessen konnte, welche Anstrengung es ihn kostete, seine Leidenschaft im Zaum zu halten. Doch für Nicholas war es von größter Bedeutung, dass die erste Einführung dieses
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