Lockruf Der Leidenschaft
einem Ruck die Steppdecke beiseite und packte seine Hand. Stöhnend fügte Nick sich und stand auf. Er war nicht daran gewöhnt, sich aus dem Bett zu erheben, ehe nicht der Morgen bereits ein gutes Stück fortgeschritten war, und der Anblick der nackten Polly in Verbindung mit der eiskalten Luft auf seinem eigenen unbekleideten Körper ermunterte ihn eher dazu, noch eine Weile liegen zu bleiben. »Zieh dein Hemd an, Liebes, sonst frierst du dich noch zu Tode«, mahnte er und griff nach ihrem Unterhemd.
»Oh, es ist nur deshalb kalt hier drin, weil das Feuer ausgegangen ist«, erklärte Polly ungeduldig. »Im Salon ist es gar nicht so schlimm.« Mit Nick im Schlepptau hüpfte sie in den zweiten Raum, wo das Feuer, wie Nick bemerkte, bereits frisch geschürt war, die Überreste des Essens vom vergangenen Abend beseitigt und der Tisch für das Frühstück gedeckt war. Mrs. Benson war offensichtlich eine sehr fleißige Pensionswirtin. »Sieh doch!« Polly wies auf das Fenster. »Wir sind in einem Schneehaus.«
Nicholas stieß einen kurzen Pfiff aus und trat hinüber zu dem, was einmal ein Fenster gewesen war. Die Scheibe war vollständig mit Schnee bedeckt.
»Kann der Schnee so hoch liegen, dass er sogar das Obergeschoss erreicht?«, fragte Polly »Sollen wir es öffnen und nachsehen?«
»Wenn du vorhast, den Salon mit Schnee zu überfluten, kannst du das von mir aus gerne tun«, entgegnete Nick gleichmütig. »Man könnte meinen, dass du noch nie Schnee gesehen hast.«
»Aber ich habe ihn immer geliebt«, erklärte sie. »Er bedeckt den ganzen Schmutz und Unrat, und für eine Weile kann man so tun, als käme all das nie wieder zum Vorschein. Es ist, als bliebe die Welt für immer so glitzernd und strahlend und weiß.« Sie zuckte mit den Achseln. »Es ist verrückt, ich weiß. Irgendwann wird die weiße Decke matschig, dann schmilzt sie, und dann ist der ganze Dreck wieder da, nur noch schlimmer.« Ein Bildnis, das auf das ganze Leben passte, wie Polly häufig dachte. Es gab Momente, in denen man sich echte Hoffnungen machte, in denen der Gedanke an eine radikale Wende zum Besseren nicht mehr nur wie ein fantastisches Märchen erschien, doch dann kehrte die Realität wieder zurück, die durch die Zerstörung der Träume nur noch niederdrückender geworden war. Doch dieses Mal würde die weiße Decke nicht schmutzig werden und schmelzen. So weit konnte es nicht kommen, da dieses Mal Polly selbst die Kontrolle über ihr Schicksal übertragen worden war. Der Lotteriegewinn stand unmittelbar vor ihren Augen, und Polly brauchte ihn sich nur noch zu schnappen - falls sie das konnte.
Nick runzelte die Stirn und fragte sich, warum das Strahlen so plötzlich wieder von Pollys Gesicht verschwunden war. Doch ebenso schnell, wie er gekommen war, verflog auch der Ausdruck der Trostlosigkeit wieder, der das Strahlen verdrängt hatte, und wieder schenkte Polly ihm dieses atemberaubende Lächeln. »Vielleicht sind wir ja eingeschneit.«
Nicholas erwiderte ihr Lächeln. »Ich könnte mir durchaus Schlimmeres vorstellen, trotzdem ziehe ich mich jetzt an und sehe mir das Ganze von unten an.« Er ging zurück ins Schlafzimmer und zog sich Hemd und Hosen an. Polly folgte ihm und warf sich ihr Kittelkleid über.
»Ich möchte es mir auch ansehen«, entgegnete sie auf seine fragend hochgezogenen Brauen hin. »Oder darf ich das nicht?«
»Es wäre mir lieber, wenn du zurück ins Bett steigst und wartest, bis ich zurückkomme. Ich habe nicht vor, lange wegzubleiben, und da ist ja noch eine gewisse, bisher unerledigte Angelegenheit, deren wir uns annehmen müssen. Ich meine mich daran erinnern zu können, dass du ziemlich ungeduldig warst, dass der neue Morgen so schnell wie möglich anbrechen solle. Oder findest du den Anblick des Schnees so wunderbar, dass du dich auf nichts anderes mehr konzentrieren kannst?«
Polly zog ihr Kleid wieder aus und kletterte zurück ins Bett. »Aber wenn du zu lange wegbleibst, komme ich und suche dich.«
»Ich kann dir versprechen, dass ich nicht lange bleibe«, erwiderte er mit einem leichten Schwindelgefühl, das ihn bei ihrem Anblick überkommen hatte. Pollys Hinteransicht, während sie auf das hohe Federbett geklettert war, hatte in einem erfindungsreichen und verspielten Verstand wie dem seinen eine Fülle von Fantasievorstellungen ausgelöst. Sollten sie tatsächlich eingeschneit sein, konnte es sich noch als äußerst unterhaltsam herausstellen. »Ich fürchte, Ihr habt gerade ein paar ganz
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