Lockruf Der Leidenschaft
wir später noch in Ruhe entscheiden.« Polly blieb der Mund offen stehen. Es schien geradezu unfassbar, dass man noch mehr Kleidung benötigen könnte. Anschließend wurden die Stoffe sorgfältig eingepackt und dem Kutscher übergeben, ehe sie dem Schuhmacher einen Besuch abstatteten, wo Polly zusätzlich zu ihren Stiefeln aus spanischem Leder ein Paar der elegantesten Schuhe bekam, die sie jemals gesehen hatte. Sie besaßen Absätze mit mehr als drei Zentimetern und waren mit Schnallen aus echtem Silber geschmückt.
»Kann man in so etwas überhaupt gehen?« Polly beäugte die Schuhe ein wenig argwöhnisch. Elegant mochtcn sie ja sein, praktisch waren sie mit Sicherheit nicht.
»Du wirst es lernen«, entgegnete Nick. »Alles, was jetzt noch fehlt, ist ein Korsett.«
»Nein!«, rief Polly, nun endlich doch noch zur Meuterei aufgestachelt. »Dafür habe ich überhaupt keinen Bedarf. Sie zwicken und kneifen so entsetzlich, außerdem kann man darin nicht atmen! Die Dame, bei der Prue früher angestellt war, fiel ständig in Ohnmacht, und die Korsettstangen haben ihr die Haut in Fetzen gerissen, hat Prue erzählt.«
De Winter und Nicholas tauschten einen raschen Blick. Im privaten Rahmen mochte eine Dame vielleicht ohne Korsett auskommen, auf modischem Parkett hingegen konnte sie sich ohne keinesfalls sehen lassen, von der Bühne ganz zu schweigen. »Ich bin mir nicht sicher, ob Prue in solchen Dingen auch wirklich eine zuverlässige Informantin ist«, stellte Nick sachlich fest.
Trotzig blitzten Pollys Augen auf. »Selbst wenn Ihr so ein Ding kauft, werde ich es nicht tragen, sodass Ihr damit lediglich Euer Geld verschwenden werdet!«
»Ich verstehe.« Nicholas zuckte die Achseln. Diesen Kampf würde er den vereinten Kräften von Thomas Killigrew und Pollys persönlichem Ehrgeiz überlassen. »Dann gibt es zu diesem Thema wohl nichts mehr zu sagen.« Polly musterte ihn misstrauisch. Das war eine recht schnelle Kapitulation gewesen, doch sein Gesicht war vollkommen ausdruckslos, und als sie kurz zu De Winter hinüberschaute, bemerkte sie, dass auch seine Miene nichts widerspiegelte.
»Fahren wir zu der Näherin und geben die Arbeit in Auftrag«, erklärte Nick, als wäre nichts geschehen. So großzügig, wie Nick sich in seiner Niederlage zeigte, wollte sie sich auch in ihrem Sieg beweisen, beschloss Polly und schenkte ihm ihr bezauberndstes Lächeln. »Ich fühle mich durch Eure Großzügigkeit geradezu überwältigt, Sir. Ich wüsste nicht, womit ich das verdient habe.«
Mit einem leicht gezwungenen Lächeln blickte Nicholas auf Polly hinab. »Das weißt du nicht, Polly? Das erscheint mir aber erstaunlich unaufmerksam von dir.«
Ihre Blicke begegneten einander. Polly war sich ihrer unmittelbaren körperlichen Reaktionen wohl bewusst - dieses Gefühls, als ob sich etwas in ihrem Bauch zusammenzöge, dieses plötzlichen Bebens in ihren Lenden -, doch noch stärker war das Gefühl, dass sie sich in Nicholas' Augen und seinem Lächeln regelrecht verlor. Er verbarg ein Geheimnis; ein Geheimnis, in das er sie noch einweihen würde, in das sie bereits eingeweiht war, das sie nur noch nicht wahrgenommen hatte. Pollys Herz raste. Unwillkürlich trat sie einen Schritt auf Nicholas zu, als ob das geschäftige Treiben im Royal Exchange unter dem Zauberstab eines Magiers verschwunden wäre. Richard De Winter verfluchte im Stillen die Launen des menschlichen Herzens. Es war also genau so, wie er bereits vermutet hatte. Sie waren beide verhext, gefangen in einem Zauberkreis, versunken in die wundersame Entdeckung der Gegenseitigkeit ihrer Liebe. »Wenn Schönheit das Blut berauscht, beflügelt die Liebe den Geist.« Auf geradezu beunruhigende Art und Weise treffend schoben sich diese Zeilen von Master John Dryden in De Winters Gedächtnis.
»Es ist schon spät«, sagte er. »Wenn wir noch vor Einbruch der Nacht die Näherin aufsuchen wollen -« »Ja.« Nick schüttelte den Kopf, als wolle er seine Verwirrung abschütteln, und ergriff Pollys Hand. »Eine Erinnerung gerade zur rechten Zeit, Richard. Komm, Liebes. Nun musst du deine Zeichnungen einer Expertin zur Prüfung vorlegen.« Er schob Polly in die Kutsche, hinein in das dämmrige Innere. Seine Stimme klang forsch, als hätte sich jener Augenblick von gerade eben niemals ereignet. Doch Polly wusste, dass es ihn gegeben hatte, und sie wusste auch, was er bedeutete.
Dies war eine Beziehung, deren Wurzeln im Eigennutz und der Zweckdienlichkeit lag. Sie hatte vorgehabt,
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