Lockruf Der Leidenschaft
des Schauspielhauses erreicht hatte, wartete sie endlich auf die beiden Männer. Der Spaziergang durch die kalte Luft hatte ihr geholfen, wieder einen klaren Kopf zu bekommen, sodass sie Nicks Worte in einem neuen Licht sah. »Das hast du mit Absicht gemacht, nicht wahr?«, fragte sie leise, als er sie eingeholt hatte. In Nicholas' Augen lag ein leichtes Lächeln, und als er nickte, brach Polly in Gelächter aus. »Bitte gestattet mir, Euch sagen zu dürfen, Mylord, dass Ihr eine höchst hinterlistige Vorgehensweise habt.«
»Aber auch höchst wirkungsvoll«, entgegnete Nicholas grinsend.
»Ja«, entgegnete sie schlicht. »Und ich bin so dankbar ... dafür und für alles andere.«
»Und ich fühle mich großzügig dafür entlohnt«, antwortete er sanft. Wieder waren sie im Bann jenes intensiven Empfindens, das sie im atemlosen Eingeständnis seiner Macht gefangen hielt.
Master Killigrew, der bereits die Treppe hinaufgegangen war, um die große Tür aufzuschließen, drehte sich um. Er sah das Gefühl zwischen ihnen wie eine fast greifbare Strömung. Killigrew holte tief Luft, während die seltsame Kraft verebbte und die Liebenden aus ihrer Umklammerung entließ. Nick deutete mit höflicher Geste auf die Treppe, und Polly ging vor ihm hinauf.
Die Tür schwang auf, und endlich befand sich Mistress Wyat im Schauspielhaus des Königs. Sie hatten es von der Drury Lane aus über einen Eingang betreten, den sie schon bald den Bühneneingang nennen würde, und befanden sich nun in einem dunklen Durchgang. »Dort sind die Garderoben.« Killigrew deutete nach links, während er durch eine geradeaus vor ihnen liegende Tür ging. Polly folgte ihm und stand das erste von unzähligen Malen, die noch folgen sollten, auf der Bühne des Theatre Royal.
Sie stand einfach nur da und blickte sich mit großen Augen um. Ein gläsernes Kuppeldach überspannte das Parkett vor der Bühne, seitlich und an der Rückwand des Theaters verliefen kleine Logen, die in galerieartigen Reihen angeordnet waren. Polly versuchte sich vorzustellen, wie es wäre, wenn diese Sitze alle besetzt waren. Das Theater schien mindestens vierhundert Menschen Platz zu bieten. Wie allein und ausgesetzt musste man sich wohl auf dieser kleinen, hölzernen Plattform fühlen! Polly erschauderte, während die kalte Verzweiflung wieder nach ihr zu greifen drohte.
Killigrew war auf die eine Seite der Bühne getreten, wo er nach einem Bündel loser Seiten griff und es rasch durchblätterte. »Diese Szene, glaube ich.«
»An welches Stück hattest du gedacht?« Nick ging zu Tom hinüber und blickte ihm interessiert über die Schulter. »Oh, Floras Launen.« Er lachte leise. »Selbst ich hätte keine bessere Wahl treffen können.« »Warum liest du nicht einfach den Alberto?« Killigrew ließ seinen Vorschlag beiläufig klingen, als hätte er die Schlussfolgerungen, die er über Lord Kincaid und Mistress Polly Wyat gezogen hatte, bereits wieder vergessen. »Das ist Euch vielleicht weniger unangenehm, Mistress Wyat, wenn Kincaid mit Euch zusammen spielt.« »Ich bin aber kein Schauspieler«, gab Nick zu bedenken.
»Das brauchst du auch gar nicht zu sein. Lies einfach nur die Zeilen. Das Schauspielern überlassen wir der Dame.« Killigrew ging lächelnd über die Bühne und zu der Stelle hinüber, wo Polly stand, die von der kurzen Unterhaltung scheinbar nichts bemerkt hatte, sondern konzentriert ihre Umgebung in sich aufnahm. »Ich werde Euch erst einmal ein wenig über Flora erzählen«, sagte er, und Polly riss sich aus ihren Träumereien los. »Flora ist eine sehr lebhafte junge Dame, die sich von den Umständen oder von Menschen nicht beherrschen lässt, und von Männern schon gar nicht.« Killigrew beobachtete Polly genau, während er versuchte, das Bild einer der gewinnendsten und kühnsten Heldinnen zu zeichnen, die die Bühne zu bieten hatte. »Sie ist das Mündel eines Flegels, eines Rüpels, der sowohl sie als auch seine Tochter am liebsten einkerkern würde, um deren Niedergang durch die Verführungen der Lust und der Liebe zu verhindern.«
Polly lächelte und warf ihm einen wissenden Blick zu. Killigrew nickte. »In dieser frühen Szene begeht Floras Verehrer, Alberto, den schweren Fehler, eine Geschichte über die Dame zu verbreiten, die ihr nicht gerade zum Vorteil gereicht. Flora erfährt davon und hält ihrem Verehrer eine ausgesprochen wortgewandte Standpauke.« Damit überreichte er ihr die Seiten. »Aber lest Euch die Szene am besten erst einmal
Weitere Kostenlose Bücher