Lockruf Der Leidenschaft
richtete sie sich wieder auf, wandte den Blick diskret ab, als ob sie bestreiten wollte, dass der Blickwechsel überhaupt stattgefunden hätte, und schwebte davon, als wolle sie sich einem weiteren Gast zuwenden. »Brillant!«, hauchte Killigrew. »Und Ihr habt noch keinerlei Bühnenerfahrung ?«
»Um Shakespeare zu zitieren - zumindest, soweit es Polly betrifft: Die ganze Welt ist eine Bühne«, lachte Nick. »Und sie lässt sich nur selten die Gelegenheit entgehen, darauf aufzutreten.«
Polly errötete und glaubte, unter dem Lachen eine winzige Rüge herauszuhören. Nick hatte schließlich oft genug hervorgehoben, dass dies eine der Eigenschaften war, die ihm weniger gut an ihr gefielen. »So etwas habe ich Euch schon seit Ewigkeiten nicht mehr vorgespielt, Mylord«, entgegnete sie mit kühler Würde. »Es ist also äußerst unhöflich, jetzt auf Dinge anzuspielen, von denen ich dachte, dass sie zur Vergangenheit gehören.« »Da hast du mich falsch verstanden, Liebes. Ich wollte dir diesmal doch nur ein Kompliment machen.« Der Anflug von Verärgerung verschwand, und ihre Schultern entspannten sich. »Ich bitte um Vergebung, Sir. Ich wollte keine voreiligen Schlüsse ziehen.«
Fasziniert lauschte Killigrew der Unterhaltung. Polly hatte die lieblichste Stimme, glockenrein und wohl moduliert, und ließ ihren Gefühlen vollkommen ungekünstelt freien Lauf, als ob sich außer Kincaid und ihr niemand in der Kammer befände. Ein etwas ungehemmtes Wesen konnte einem Schauspieler ein großes Geschenk sein, zumindest so lange, wie sich diese Unbefangenheit lenken ließ. Wenn sie hingegen Ratschläge und Anweisungen nur widerwillig annahm, war es leider völlig unerheblich, wie hübsch ihr Gesicht und ihr Körper waren, wie ungekünstelt ihr schauspielerisches Talent - und duckmäuserisch und unterwürfig war Polly gewiss nicht. Doch wo hatte Kincaid sie überhaupt aufgetrieben? Sie hatte so eine entzückende Unbedarftheit an sich, eine neugierige Unschuld, die so gar nicht zu ihrer Stellung als Mätresse zu passen schien. Zudem war sie noch sehr jung, und auch ihre Art zu sprechen und ihr Auftreten waren nicht die eines Mädchens, das in Covent Garden oder einem ähnlichen Viertel aufgewachsen war. Doch war ihr Name Killigrew vollkommen unbekannt, sodass sie höchstwahrscheinlich auch kein Abkömmling einer verarmten Adelsfamilie war. Möglicherweise die Tochter eines Kaufmannes, welche ihre Tugendhaftigkeit gegen soziales und finanzielles Fortkommen eintauschen wollte. Verarmte Adlige, die Töchter angesehener Kaufleute, Huren aus Covent Garden - sie alle hatten in den vergangenen Jahren den Weg zur Bühne gefunden, allesamt auf der Suche nach materiellem oder gesellschaftlichem Aufstieg. Und beides konnte eine Schönheit wie diese hier auf diesem Wege erlangen, und es wäre in der Tat eine Schande, ein solches Muster an Tugendhaftigkeit in das zweitklassige Schicksal einer Kaufmannsehefrau zu entlassen.
»Möchtet Ihr mich vielleicht zum Schauspielhaus begleiten, Mistress Wyat?«, fragte Killigrew nun. »Es wäre mir lieb, wenn Ihr mir dort einmal eine Szene vorlest.«
Polly wollte gerade erwidern, dass sie mehr als willens sei, solange die Wörter nicht allzu schwer waren, als sie Nicholas' warnenden Blick bemerkte, der sie daran erinnerte, sich zu keinerlei Andeutungen über ihre wahre Herkunft hinreißen zu lassen. »Ich stehe Euch zur Verfügung, Sir«, antwortete sie stattdessen. Hinter dieser vorsichtigen und förmlichen Antwort verbarg sie den Anflug von Erregung, der bei der Aussicht Besitz von ihr ergriffen hatte, endlich ein Schauspielhaus betreten zu dürfen, während sie gleichzeitig der Mut verließ. Denn nun war der Augenblick gekommen, um all das Talent, das sie zu besitzen glaubte, auf die Probe zu stellen. Was, wenn sie falsch lag und gar kein Talent besaß, wenn Master Killigrew sie zurückwies? Das war eine Vorstellung, die dieses entsetzliche Gefühl der Leere, der Hoffnungslosigkeit in Polly hervorrief - eine Leere, der zu entkommen sie so lange und so hart gekämpft hatte. »Ich hole nur eben meinen Umhang.« Damit verschwand sie in ihrem Schlafzimmer.
Nicholas nahm seinen eigenen Umhang von dem Stuhl im Salon und legte ihn sich um die Schultern. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich euch begleite, Thomas?«
»Wenn du meinst, dass deine Gegenwart sie nicht ablenkt«, entgegnete der Leiter der Königlichen Theaterkompanie, der sich nicht länger mit den formalen Höflichkeiten aufhielt, die
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