Lockruf Der Nacht
stellenweise gebrochen, was mich an einem schnellen Vorankommen hindert. Vielleicht sollte ich hier wie auf einer einsamen Insel warten, bis ein Schiff vorbeikommt.
Plötzlich kommt eine Stelle, die nur noch zehn Zentimeter breit ist. Jeder Muskel in meinem Körper ist angespannt, als ich auf Zehenspitzen darüber hinwegklettere, dabei sehe ich zwangsläufig nach unten. Das Wasser ist hier kristallklar und lässt mich bis auf seinen Grund blicken. Etwas, das ich besser nicht getan hätte, denn mir stockt bei dem Anblick der Atem.
Inmitten einer Idylle aus bunten Fischen, Seesternen und Korallen liegt ein Autofriedhof, aber das ist nicht das Schlimmste. Zwischen den Wracks schwimmen Frauen, ihre langen Haare bewegen sich friedlich mit der Strömung und ihre toten Augen sehen mich an, als würden sie sagen: Du bist die Nächste! Ein Schrei löst sich aus meiner Kehle und ich fange an zu laufen, versuche weit weg von dieser grauenhaften Szenerie zu kommen. Ich wage es nicht, noch einmal nach unten zu sehen. Dafür wird es auf einmal dunkel, der Himmel zieht sich urplötzlich zu und das Wasser fängt an, aus seinen Tiefen zu grollen. Ich rutsche aus, falle hin, rappel mich wieder hoch, als das Meer sich unheilvoll vor mir aufbäumt und eine Riesenwelle über mir zusammenbricht. Meine Füße werden mir weggerissen und ich rutsche haltlos ins Meer. Jeder Kampf scheint aussichtslos gegen diese unberechenbare Kraft. Ich lasse los und ergebe mich.
Als ich die Augen öffne sehe ich ihn. Er hält mich in seinen Armen und streicht mir das Haar aus dem Gesicht. »Das war knapp«, sagt er und lächelt mich an. Mein Gott, hat dieser Mann schöne Augen. Ich wünsche mir, dass dieser Augenblick nie vorbei geht.
Die See hat sich plötzlich beruhigt, der Himmel ist wieder strahlend blau. Doch es spielt auch keine Rolle mehr, denn ich habe das Gefühl, dass mir mit ihm an meiner Seite nichts passieren kann. »Ich kenne dich und doch kenne ich dich nicht. Wer bist du?«
Er lacht leise und sagt: «Das musst du schon selbst herausfinden.«
»Aber wie?«
Um weitere Fragen im Keim zu ersticken, legt er seine Lippen auf meine und küsst mich.
»Bitte«, flüstere ich. »Ich muss es wissen.«
Er wird plötzlich ernst. In seinen Augen sehe ich, dass etwas nicht stimmt, dann löst er sich auf.
7.
Ich bin wach, wacher kann man nicht sein. Verdammter Mist. Ich muss zurück, schließe die Augen, versuche an ihn zu denken, ihn zurückzuholen. Dunkelbraunes, wirres Haar, stechend blaue Augen, ein markantes Kinn mit einem Grübchen. »Bitte«, flehe ich. Doch das Bild will sich nicht mehr einstellen. Die Nacht ist vorbei und damit meine Träume.
»Hab ich gestern was verpasst?«
»Was sollst du verpasst haben? Was meinst du?«
Lilith sitzt auf einem meiner Barhocker, während ich uns ein paar Rühreier zum verspäteten Frühstück mache. Sie kommt nur selten zu mir, weil sie die Gegend nicht mag, in der ich wohne. Meistens besucht sie mich aber nach einer Vernissage, um sich die Fotos mit mir anzusehen. Sie sieht mich mit schrägem Kopf an, kneift die Augen zusammen und schürzt die Lippen. Ich stelle ihr den Teller hin, greife selbst nach meinem Kaffeebecher und nehme genüsslich einen großen Schluck.
»Du hast jemanden abgeschleppt und …« Sie macht eine Pause »Nein, du bist verliebt? Oder schwanger?«
Ich spucke vor Schreck den Kaffee zurück in den Becher und sehe sie mit großen Augen an.
»Was? Du hast das gewisse Etwas in den Augen. Sie strahlen.«
»Findest du?«
»Jetzt spann mich nicht auf die Folter, Leia. Erzähl.«
Ich bin mir nicht sicher, ob sie mich verstehen würde, wenn ich ihr die Wahrheit sage. Ich lasse es auf einen Versuch ankommen. »Okay, aber halt mich nicht für verrückt«, fange ich vorsichtig an. »Es gibt da jemanden, aber …«
»Er ist verheiratet.«
»Nein.« Ich greife wieder zur Tasse, nehme vorsichtig einen Schluck und beobachte ihr neugieriges Gesicht über den Rand hinweg. »Träumst du eigentlich?«
»Was soll diese Frage, Leia? Natürlich träume ich. Nur kann ich mich nur selten daran erinnern.«
»Meine Träume sind in letzter Zeit sehr intensiv. Ich träume sogar Dinge, die kurz darauf eintreffen.«
Lilith sieht mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
»Ich habe dir von Joe erzählt.«
»Dem Hund«, sagt sie trocken und ich fange an zu lachen.
»Ich hatte ihn doch aufgefordert, seinen Schlüssel vom Loft hier zu lassen. Gestern Nacht träume ich, dass ich zu ihm
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