Lockruf Der Nacht
und google alles, was auch nur im Entferntesten mit Träumen zu tun hat. Auf mehreren Seiten werden Traumdeutungen angeboten. Mal sehen, was das Wort Wasser ergibt. Es eröffnet sich mir gleich eine seitenlange Erklärung über seine Bedeutung im psychologischen, esoterischen, volkstümlichen und allgemeinen Sinne.
Puh, ich picke mir das raus, was in meinen Träumen meistens vorkommt, nämlich eine stürmische unruhige dunkle See. Demnach bin ich unsicher, materialistisch eingestellt und habe mangelnde Selbstkenntnisse. Super. Klingt nach guten Charakterzügen. Aber es kann auch stürmische Zeiten mit viel Sorgen und Aufregungen ankündigen. »Großartig. Kann also nur besser werden.«
Leere, zerbombte Bunker, dunkle Wälder, schwarzer Himmel, Leichen, das alles lässt sicher tief in meine zerrissene finstere Seele blicken oder in eine düstere Zukunft. Ich will es gar nicht mehr wissen und klappe den Deckel des Computers zu.
Ich überlege, was ich mit dem Rest des Tages anfangen soll und entschließe mich, bei meiner Lieblingsboutique in Soho vorbeizuschauen.
Ich habe gerade einen Sack neue TShirts und Blusen erstanden, als ich aus dem Laden komme und auf der gegenüberliegenden Seite einen Mann mit dunkelbraunem längerem Haar und schwarzem Trenchcoat gehen sehe. Ich erhasche nur kurz einen Blick auf sein Gesicht, aber das reicht, um mein Herz auf Hochtouren zu bringen. Er läuft die Broom Street runter und verschwindet um eine Häuserecke. Ich überquere die Straße, nehme an der Ecke die Kurve zu schnell und stoße mit einer älteren Dame zusammen. Vor Schreck lässt sie ihre Einkaufstüte fallen, und der Inhalt ergießt sich auf dem gesamten Bürgersteig. Ich fluche und entschuldige mich gleichzeitig, hebe die Dosen und Äpfel auf und stopfe sie zurück in die Tüte.
»Muss man denn so rennen?«
»Ja, muss man«, antworte ich patzig und scanne die Gegend ab. Ich laufe unter einem Baugerüst bis zur nächsten Straße entlang und habe nur eins im Auge: Den Mann in dem schwarzen Trenchcoat.
Plötzlich reißt mich jemand nach hinten. Ich verliere das Gleichgewicht, rudere mit den Armen und lande schmerzhaft auf dem Kantstein. Ich will gerade anfangen zu pöbeln, als ein Bus direkt vor meiner Nase vorbeizischt.
»Sind Sie lebensmüde?«
»Nein«, sage ich kleinlaut. Das wär es fast gewesen. Ich bedanke mich bei dem älteren Herrn und klopfe den Dreck von meiner Hose. Das hat mich kostbare Sekunden gekostet, wenn nicht sogar Minuten. Bevor ich dieses Mal die Straße überquere, schaue ich nach rechts und links, obwohl es eine Einbahnstraße ist, und vergewissere mich, dass ich nicht überrollt werden kann.
Als ich zur nächsten Kreuzung komme, ist der Mann mit dem schwarzen Trenchcoat verschwunden. Jedes Haus gehe ich ab, sehe in jeden Laden hinein. Nichts. Keine Eingebung von oben. Enttäuscht mache ich mich auf den Weg nach Hause.
Mein Handy klingelt. Es ist die Käuferin des Apartments. Mara. Sie möchte noch einmal den Termin für die Vertragsunterzeichnung nächste Woche bestätigt haben und fragt mich, ob ich Lust hätte, ihr beim Einrichten des Apartments zu helfen. Gegen Bezahlung natürlich.
Nach einer Scheidung teilen sich die gemeinsamen Freunde. Bei einer `schmutzigen´ Scheidung, bei der viel Geld fließt und die Ehefrau als geldgieriges Monster da steht, bleiben meist nur noch Feinde.
Ich sage zu und wir verabreden uns für den nächsten Montag.
Es ist später Nachmittag und zu früh, um mich für die Party fertigzumachen. Ich ziehe mir meinen Morgenmantel an und lege mich aufs Bett. Auf meinem Nachttisch liegen etwa fünf angefangene Bücher. Ich nehme das Oberste vom Stapel, das ich schon seit Wochen in Arbeit habe und versuche den Anschluss zu finden. Ich habe keinen blassen Schimmer mehr, worum es ging und lese, ohne zu lesen.
Es klingelt an der Tür. Ich erwarte niemanden. Spontan kommt mich auch keiner besuchen, nicht einmal Lilith. Außerdem war sie ja erst heute Morgen hier und so schnell wird sie sich nicht mehr hier her verirren. Ich sehe durch den Spion, kann aber niemand entdecken. Vorsichtig öffne ich die Tür einen Spalt. Vor mir steht ein Mann. Nicht irgendein Mann. Ich erkenne ihn sofort. Es ist der schöne Unbekannte. Seine Hände sind in den Hosentaschen vergraben, sein Kopf zur Seite geneigt und er lächelt mich aus seinen strahlend blauen Augen verschmitzt an.
Mein Herz fängt an zu klopfen. Die blödesten Fragen gehen mir durch den Kopf, aber ich spreche
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