Lockruf Der Nacht
Lilith.
»Keine Ahnung. Es stand hier hinten.«
Lilith zuckt mit den Schultern und stellt die von Mara ausgewählten Bilder nebeneinander an die Wand.
»Was meinst du, Leia?« Mara stupst mich an und zeigt auf die Auswahl.
Ich tippe auf zwei. Eines ist surrealistisch und zeigt einen Himmel, in dem auf fliegenden kubischen Gebilden Menschen, Tiere und Bäume stehen. Es ist betitelt mit »Tod «. Das andere besteht aus wilden Farben, aus denen man erst beim zweiten Hinsehen verzerrte Gesichter erkennen kann. Etwas unheimlich.
Mara wählt noch ein weiteres aus und schreibt einen Scheck über eine Summe X aus.
Ich starre wieder auf das Bild mit dem Seiltänzer und lasse mich von den blauen Augen hineinziehen, bis alles verschwimmt. Es steht nicht einmal ein Preis darauf. »Was soll das denn kosten, Lilith?«
Sie zuckt wieder mit den Schultern. »Keine Ahnung. Warte mal.« Sie nimmt das Telefon in die Hand und drückt eine Taste. »Er geht nicht ran«, sagt sie und überprüft den Scheck von Mara. »Ich versuche es später wieder.«
»Gibt es noch mehr dieser Art?«
»Ich glaube nicht. Ich weiß eh nicht, wie es da hinkommt. Mein Chef, Mr. Graf, muss es dort hingestellt haben.«
Wie gerne würde ich es mitnehmen. Einen perfekten Platz in meinem Loft hätte ich auch schon. »Egal, wie viel es kostet, ich spare drauf«, sage ich und stelle es wieder an seinen Platz zurück. Ich muss das Bild unbedingt haben.
»Komm, ich lade dich noch zum Essen ein.«
Lilith beobachtet mich und Mara mit kritischem Blick. Ich weiß genau, was in ihrem Kopf vorgeht. Sie hat Angst, dass ich eine neue Freundin gewinnen könnte und sie nicht mehr die Nummer Eins ist.
Ein paar Blocks weiter ist ein kleines Restaurant mit einer bunt gemixten Speisekarte. Ich bestelle ein Lachsfilet in Meerrettichsoße, Mara einen Salat.
»Was hat dich so an dem Bild fasziniert?«
Ich überlege, ob ich ehrlich sein oder ob ich eine Geschichte erfinden soll. Ich zähle bis drei und sage die Wahrheit: »Der Mann.«
Sie zieht die Stirn kraus. »Warum ausgerechnet er? Die beiden Tore waren doch viel interessanter.«
»Weil ich von ihm geträumt habe. Und das nicht nur einmal. Auch sind meine Träume in letzter Zeit so extrem, dass ich oft das Gefühl habe, alles wirklich zu erleben.«
Mara sieht mich mit einem eigenartigen Blick an. »Hast du Schlafprobleme?«
»Nein.«
»Du schläfst also nicht plötzlich ein, egal wo du gehst oder stehst?«
Ich lache bei der Vorstellung, dass ich mich mitten bei einer Besichtigung auf den Boden schmeißen und einschlafen könnte. »Nein.«
»Hast du mal etwas von Narkolepsie gehört?«
Mein fragender Blick gibt die Antwort. »Klingt nach einer Krankheit.«
»Ist es auch. Genauer gesagt eine chronische, neurologische Krankheit, die auf einen Mangel eines Botenstoffes im Gehirn zurückzuführen ist.«
Mit Krankheiten will ich nichts zu tun haben und ich denke auch nicht, dass meine Träume zu einer Krankheit gehören.
»Meistens kommt es zu ersten Anzeichen zwischen dem 15. und dem 30. Lebensjahr. Wie alt bist du?«
»Achtundzwanzig.«
»Also um es kurz zu erklären. Es gibt verschiedene Arten der Narkolepsie. Eine davon nennt sich Katalepsie. Das ist eine Art Schlaflähmung und tritt in den Übergangsphasen beim Einschlafen und Aufwachen auf, zwischen Wachsein und Träumen sozusagen. Sie kann mit schlafbezogenen Halluzinationen auftreten, die auf den Betroffenen völlig real wirken.«
Ich schlucke und meine Kehle ist vollkommen ausgetrocknet.
»Selbst nach dem Aufstehen können Narkoleptiker davon überzeugt bleiben, dass ein Einbrecher an ihrem Bett stand oder sie vergewaltigt wurden.«
»Woher weißt du so viel darüber?«
»Ich habe mich mal während meines Psychologiestudiums damit beschäftigt.«
»Diese Narkoleptiker … werden die auch aktiv im Traum und laufen herum?«
»Nein eigentlich nicht. Aber weißt du Leia, die Traumforschung steckt noch in den Kinderschuhen, genauso wie die Erforschung unseres Gehirns. Man weiß zwar, dass es verschiedene Phasen gibt, wie REM und Non-REM, aber im Grunde genommen haben wir doch keine Ahnung, in was für Welten wir da eintauchen. Woher unser Unterbewusstsein die Bilder bekommt.« Sie winkt ab. »Ich glaube es ist komplexer, als wir es uns vorstellen können.«
»Woher meinst du kommen die Menschen in den Träumen?«
Sie sieht an mir vorbei und denkt nach. Ich studiere dabei ihr Gesicht, das sehr hübsch ist mit schönen geschwungenen Lippen und
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