Lockruf Der Nacht
Bett wieder. Meine Träume werden immer eigenartiger und abgedrehter.
Als ich im Bad vor dem Spiegel stehe, entdecke ich braune Flecken auf meinem Nachthemd, die ich näher in Augenschein nehme. Sie sehen aus wie kleine Matschflecken. Wie die wohl da rangekommen sind? Ich ziehe es aus, werfe es in meinen Wäschesack und steige unter die Dusche, als ich etwas anderes an mir entdecke, das mir eine Gänsehaut über den Körper jagt, und mir doch sehr zu denken gibt.
Mein erster Gang ist heute ins Büro. Ich informiere meinen Chef Mr. Summer über die neue Immobilie, das Schloss in den Wolken, wie ich es nenne, und spreche dabei auch vorsichtig meine zukünftige Stellung in der Firma an. Immerhin arbeite ich seit sechs Jahren unter den gleichen Bedingungen für ihn. Außerdem ist es nicht das erste Projekt, das ich auf einer Party an Land gezogen habe und woran meine beiden Chefs kräftig verdienen. Er will über meinen Vorschlag nachdenken, aber sein Gesicht verrät mir schon, wie die Antwort lauten wird.
Am Mittag treffe ich mich mit Ms. Sheldon. Sie bietet mir das Du an. Ab jetzt soll ich sie Mara nennen.
Wir messen Böden, Wände, Stellflächen in ihrem Apartment ab und zusätzlich fotografiere ich alles noch. Anschließend fahren wir den ganzen Nachmittag von einem Möbelgeschäfte zum anderen. Wir sind uns fast immer einig. Sie liebt die Mischung zwischen alt und neu, rustikal und elegant genau wie ich. Ein bisschen beneide ich sie, wie sie teure Möbelstücke bezahlen kann, ohne auf den Preis zu achten. Mara will alles neu einrichten und keine Erinnerungen an alte Tage behalten.
In Sachen Bilder empfehle ich ihr, gleich bei Lilith in der Galerie vorbeizuschauen. Sie hat immer eine gute Auswahl und außerdem ist Lilith eine hervorragende Beraterin. Mara ist einverstanden und wenig später stehen wir in der Galerie in Soho.
Lilith macht sich sofort an die Arbeit, sieht sich die Skizzen und Fotos des Apartments an und sucht passende Bilder heraus, die in Größe und Stil passen könnten.
»Da ist ja dieser Schatten wieder.« Lilith zeigt auf ein Foto, auf dem Mara vor einer Wand steht. Ich gehe die anderen durch, aber auf keinem ist er sonst noch zu sehen. Ich gebe auf, diese Kamera muss ein Eigenleben haben und führt mich offenbar an der Nase herum.
Während die beiden durch das Angebot an Bildern gehen, schlender ich durch die Galerie und sehe mir den neuen Künstler an, dessen Werke inzwischen dort aushängen. Genau wie bei den Vorherigen spricht mich diese Art von Kunst nicht an. Die Beschreibung sagt, dass sich der Künstler von der Atmosphäre der Landschaft inspirieren lässt, Berge, Bäume und Häuser grafisch und geometrisch darstellt. Seine Werke aus frischen und klaren Farben stellen eine Fantasiewelt dar. Nun, jeder hat eindeutig seine eigene Fantasiewelt.
Meine Gedanken schweifen wieder zu meinem nächtlichen Abenteuer ab, das so real erschien. Zu den schwarzen, zerklüfteten Bergen, dem Wald und zu dem Duschwasser, das in einem kleinen Strudel im Ausguss verschwand. Es war dunkelbraun, genau wie meine Fußsohlen. Ich mag kein neurotischer Putzteufel sein, aber der Boden in meinem Apartment ist definitiv nicht so dreckig, als dass er als Verursacher infrage käme. Ich seufze über die rätselhaften Spuren, welche die Nacht hinterlassen hat und mache mir einen Kaffee.
Lilith hat große gemütliche Sessel in ihrem Büro stehen. In einen davon lasse ich mich fallen, als ich etwas entdecke. An der Wand lehnt ein Bild. Es sieht so aus, als hätte es dort jemand achtlos hingestellt. Ich stehe auf und hebe es in Augenhöhe.
Der Surrealismus hat mich schon immer angesprochen. Diese Bilder fantastischer, absurder Szenen aus einer Welt zwischen Wirklichkeit und Traumhaftem. Bunt, wild, verzerrt und ohne Grenzen.
Eine schwebende Brücke zwischen den Wolken mit zwei mächtigen Toren darunter. Eines führt in die Dunkelheit, das andere ins Licht. Aber was mir die Sprache verschlägt, ist der Mann, der mit einem knallroten Regenschirm auf einem Seil balanciert. Er hat dunkles längeres Haar und sieht mich mit seinen stechend blauen Augen direkt an. Ich bin so fasziniert davon, dass ich alles um mich herum vergesse.
»Leia?! … Leia!« Mara ist neben mich getreten, setzt ihre Brille auf und betrachtet das Bild ebenfalls eingehend. »Hm, kommt mir irgendwie bekannt vor. Das ist Freiheit.«
Ich stimme ihr zu. Seine eigene Welt zu kreieren bedeutet frei zu sein.
»Wo kommt das Bild denn her?«, fragt
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