Lockruf Der Nacht
den Blick des Seiltänzers in mich auf.
Ich stehe in meinem roten Kleid vor einem Haus. Es ist umgeben von Wasser und darin sind undeutlich helle große Steine zu sehen, die zum Haus führen. Sie sehen für mich aus wie große Tierkörper. Lilith steht auf der anderen Seite und winkt mir zu. »Komm, Leia, du musst nur auf die Platten treten«, ruft sie mir zu.
Nur auf die Platten treten? Sieht sie denn nicht, dass die unter Wasser sind? Aber anscheinend ist sie auch heil rübergekommen, also nehme ich meine Schuhe in die Hand und springe auf die ersten beiden. Sie geben bedenklich unter meinem Gewicht nach und bewegen sich wie tektonische Platten hin und her.
Noch vier liegen vor mir.
Der nächste Stein sinkt so weit ein, dass ich bis zu den Knien im Wasser stehe. Es ist erst die Hälfte geschafft. Als ich den nächsten Schritt mache, versinke ich plötzlich bis zum Hals. Panik steigt in mir auf. Es gibt für mich nichts Schlimmeres, als im trüben Wasser zu stehen und nicht zu wissen, was unter mir ist. Wie soll ich zum nächsten Stein kommen? Er liegt ja höher als der, auf dem ich stehe. Mir bleibt nichts anderes übrig, als die letzten Meter zum Ufer zu schwimmen, wo ich mich schnell an Land ziehe.
Lilith ist nirgendwo mehr zu sehen. Wie konnte sie mich allein lassen? Ich bin wütend auf sie.
Im Inneren des Hauses ist Partystimmung. Leute stehen herum, reden und trinken.
Triefend nass gehe ich durch die Menschenmenge. Keiner beachtet mich. Ich scheine nicht mal existent zu sein. Wo ist Lilith?
Und dann sehe ich sie. Sie lacht und macht eine Show, wie ich es von ihr kenne, wenn sie im Mittelpunkt stehen will. Ihre Bewegungen, ihr Lachen, ihr Augenaufschlag, wie sie trinkt, redet, alles ist auf Flirten eingestellt. Derjenige, auf den sie es abgesehen hat, steht mit dem Rücken zu mir. Langsam gehe ich auf die lustige Runde zu, die Leute gehen plötzlich zur Seite, bewegen sich wie wehende Vorhänge in Zeitlupe von mir weg.
Lilith hört mitten im Satz auf, der Ausdruck in ihrem Gesicht zeigt alles andere als Begeisterung und alle drehen sich zu mir um. Es sind alles fremde Gesichter, bis auf Joe, der mich belustigt von oben bis unten mustert. Da stehe ich wie ein begossener Pudel, die Haare angeklatscht, das rote Kleid klebt mir am Körper und lässt mich aussehen als hätte ich nichts an.
Lilith fängt an zu lachen und mit ihrem schallenden Gelächter schlage ich die Augen auf.
Es ist noch dunkel draußen.
Tastend suche ich nach meinem Traumbuch, das irgendwo auf dem Boden neben dem Bett liegen muss. Es ist unter das Bett gerutscht. Genauso der Stift und die kleine Leselampe zum Anhängen. Ich schreibe den Traum hinein und klappe es wieder zu, dabei frage ich mich, warum ich so schlecht von Lilith geträumt habe. Es ist zwei Uhr nachts, eindeutig zu früh, um sich darüber Gedanken zu machen. Unruhig wälze ich mich hin und her, klopfe die Kissen zurecht und schaue aus dem Fenster. Dunkelgraue Plörre, kein Stern, kein Mond, keine Wolke.
Ich will mir gerade eine neue Schlafposition suchen, als ich ein Geräusch an der Tür höre. Verdammt, ich habe völlig vergessen den Schlüsseldienst anzurufen, um ein neues Schloss einbauen zu lassen. Männerstimmen dringen an mein Ohr. Das kann doch nicht wahr sein. Joe wird es doch wohl nicht schon wieder wagen, bei mir reinzuplatzen. Ich stehe auf, gehe nach unten und stehe drei Männern gegenüber, die mich angaffen. Einer davon ist Joe. Die anderen beiden kenne ich nicht. Ein dicker Großer und ein kleiner Dünner. »Sag mal, spinnst du?« pfeife ich ihn an. »Ich habe mich wohl nicht deutlich genug ausgedrückt.«
Er kommt auf mich zu und holt aus. Die Hand saust gegen meinen Kopf. Die Wucht des Schlages ist begleitet von einem Sternenregen vor meinen Augen und haut mich von den Füßen. Erschrocken sehe ich ihn an.
»Du gewöhnst dir mal ganz schnell einen anderen Ton an, Schlampe.« Er packt mich am Arm, zieht mich auf die Beine und schiebt mich nach oben in mein Schlafzimmer. Der dicke Glatzkopf folgt uns. Kein gutes Zeichen, denke ich und die Angst umklammert mich, engt meinen Brustkorb ein. Ich kann nur an seinen Verstand appellieren. »Joe, du solltest nichts Unüberlegtes tun.»
»Fresse halten.«
Wie komme ich darauf, dass dieses Arschloch einen Verstand hat? Ich habe keine Ahnung, wie ich hier heil herauskomme. Ein Problem und keine Lösung.
Er schubst mich auf das Bett und ich stehe sofort wieder auf. Bloß nicht liegen bleiben. »Raus
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