Lockruf Der Nacht
großen braunen Augen, die einem sofort auffallen. Bestimmt hat sie so einige Verehrer.
»Es gibt mehrere Möglichkeiten. Ich glaube, dass man sich mit den Menschen im Traum zu einem Zeitpunkt viel beschäftigt hat …«
In meinem Fall würde das nicht stimmen, denn ich habe ihn nie zuvor gesehen. Ich warte gespannt auf Maras weitere Erklärungen.
»Oder man ist ihnen irgendwann einmal begegnet … oder wird ihnen begegnen. Eine Art Zukunftsvision. Es kann auch sein, dass du sie aus einem früheren Leben kennst.«
Nur eine ihrer Erklärungen gefällt mir: Dass man den Menschen noch begegnen wird. Das internalisiere ich, wünsche es mir und hoffe es inständig. Denn aus einem früheren Leben könnte theoretisch heißen, ich treffe ihn nicht wieder und wenn ja erkenne ich ihn vielleicht nicht, weil er jetzt anders aussieht, sozusagen in einer anderen Schale steckt.
Ich lehne vehement die Erklärung ab, dass ich an Halluzinationen leiden könnte. Außerdem erinnere ich mich an seine letzten Worte. Er ist so real wie ich hatte er gesagt. Und für meine mit Erde beschmutzten Füße gibt es auch gerade keine plausible Erklärung, es sei denn ich war im nahe liegenden Park schlafwandeln.
»Du sagtest, du hast von dem Mann mehrfach geträumt?«
Ich nicke versonnen und Mara lacht.
»Es ist vielleicht jemand in deiner Umgebung, den du noch nicht kennengelernt hast.«
Ja, das will ich hören. Diese Vorstellung klingt wie Musik in meinen Ohren.
11.
Kurz, nachdem ich meine Haustür aufgeschlossen und überall Licht angemacht habe, klingelt es. Es ist der Nachbar von gegenüber. Ich bin ihm ein paar Mal begegnet und hatte nie das Bedürfnis, mit ihm näher ins Gespräch zu kommen. Er sieht irgendwie verwahrlost aus. Er steht mit einem riesengroßen Paket im Flur und hält mir einen Zettel hin. »Für mich?«
»Zumindest steht dein Name drauf.«
»Dann ist es wohl für mich.« Ich bedanke mich und beäuge es. Kein Absender. Ich schiebe es in die Mitte des Raumes und laufe ein paar Mal herum. Wer hat mir so ein großes Paket geschickt? Es ist mindestens einen Meter hoch und einen Meter fünfzig breit.
Mit einer Schere fange ich an, die Klebestreifen durchzutrennen und habe schnell einen schmaleren Karton freigelegt, der einen Stempel trägt, den ich sehr wohl kenne. Ich stutze und öffne ihn. Als ich den in Seidenpapier eingeschlagenen Inhalt heraushebe, fängt mein Herz an zu hüpfen. Vor mir steht das Ölbild aus Liliths Galerie. Der Titel heißt: Morpheus. Ich hatte ihn vorher gar nicht gesehen.
»Morpheus?«, sage ich laut vor mich hin. Der Name sagt mir was, aber auf der anderen Seite auch wieder nicht. Trotzdem bekomme ich wildes Herzklopfen und setze mich atemlos auf mein Sofa. Ich muss Lilith anrufen.
»Hi Sweetheart.«
»Hi.«
Sie lacht.
»Warum lachst du?«, frage ich.
»Ist das nicht süß?«
»Was meinst du?«
»Das Geschenk.«
»Ja, ich bin sprachlos«, gebe ich offen zu.
»Es ist von deiner Kundin.«
»Von Mara?«
»Ja.«
»Aber warum?«
»Hast du die Karte nicht gelesen?«
»Welche Karte?«
»Sie müsste hinten an dem Bild kleben.«
Ich drehe es um und tatsächlich hängt da ein Kärtchen. ` Folge der Straße deiner Träume …` steht da mit einem gezeichneten Smiley. »Das kann ich doch nicht annehmen.«
»Sei nicht dumm, Leia. Bedanke dich und häng es auf. Sie hat wirklich einen super Spezialpreis bekommen, weil sie drei sehr teure Bilder gekauft hat.«
Ich stelle das Bild auf das Sofa und kann nicht glauben, dass es jetzt mir gehört. »Sag mal, wer hat das Bild eigentlich gemalt?« Ich beuge mich hinunter, um den Namen zu entziffern, aber da stehen nur zwei verschnörkelte Buchstaben.
»Unbekannt, so weit ich weiß. Mr. Graf wusste selbst nicht mehr, dass es in seinem Besitz war, und in den Unterlagen konnte ich nichts finden. Keinen Verkäufer, Künstler, Nichts. Aber du weißt ja, wie er ist. Er ist manchmal ein wenig vergesslich. Ich hake noch einmal nach.«
»Ja bitte, mach das.« Was ist, wenn der Künstler diesen Mann kennt? Oder er sich selbst porträtiert hat? Ich streiche sanft mit dem Finger über die gemalte Figur. »Ich werde dich finden«, sage ich leise.
Überschwänglich bedanke ich mich noch bei Mara für dieses außergewöhnliche Geschenk und hänge das Bild sofort seitlich von meinem Bett zwischen die beiden Fenster. Noch lange stehe ich davor und nehme jede Farbveränderung, jedes Detail der Wolken, jeden zerbrochenen Stein der Toreingänge und besonders
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