Lockruf der Vergangenheit
hat seit heute morgen nichts gegessen, Onkel Henry«, mischte sich Martha ein. »Daran wird es liegen. Komm, gehen wir mit ihr hinunter. Gertrude hat ihr Braten und Kartoffeln warmgehalten.« Marthas Stimme war sanft und beredsam. Je länger ich mit Colins Schwester zusammen war, desto lieber wurde sie mir. Sie war liebevoll und geduldig. Und sie war vor allem verständnisvoll. Auch sie hatte ja auf tragische Weise ihre Eltern verloren.
»Komm, Leyla. Unten ist es warm und gemütlich. Du brauchst jetzt etwas zu essen, dann fühlst du dich gleich wieder besser.« Henry bot mir seinen Arm, und wir stiegen zusammen die Treppe hinunter.
Nur Anna und Colin waren im Salon, als wir drei eintraten. »Komm, Kind, setz dich.« Anna sprang auf und rückte mir fürsorglich einen Sessel zurecht. »Du kannst gleich hier essen. Ich sage Gertrude Bescheid.«
Meinen Einwand, daß es besser sei, wenn ich in der Küche äße, ließ sie nicht gelten.
»Unsinn! Du bleibst jetzt hier, Kind«, befahl sie mit mütterlicher Strenge. »Setz dich und leg die Füße hoch. So! Sitzt du bequem?«
»Ja. Danke, Tante Anna.« Ich lehnte mich in wohligem Behagen in meinem Sessel zurück, gewiß, daß nun alles gut werden würde. »So, so«, sagte Colin trocken, »Vetter Theo hat also die sprichwörtliche Katze aus dem sprichwörtlichen Sack gelassen, wie ich höre. Und mir solltest du unbedingt fernbleiben, liebe Cousine, weil alle fürchteten, daß ich eben das tun würde.« Er lächelte amüsiert. »Ist das nicht der Gipfel der Ironie?«
»Ach, Colin, sei doch still.«
Er sah Martha an und nickte wie ein gehorsamer Junge. Aber dann fing ich den zornigen Blick auf, den Anna ihm zuwarf, und fühlte mich augenblicklich an ihr Verhalten vom vergangenen Abend erinnert: Wieder hatte ich den Eindruck, daß sie etwas zu verbergen suchte. Als hätte Theo mir noch nicht die ganze Wahrheit gesagt; als gäbe es immer noch etwas zu vertuschen.
»Ich bin froh, daß mir Theo alles gesagt hat«, bemerkte ich. »Ich wünschte, ich hätte es schon viel früher erfahren. Dann hätte meine Mutter nicht ganz allein damit fertigwerden müssen.« Impulsiv wie immer entgegnete Colin: »Und wie kommst du darauf, daß Theo dir alles gesagt hat?«
Ich sah ihn erschrocken an. »Was meinst du damit?«
»Colin!« rief Anna scharf.
Er zuckte wieder auf seine lässige Art die Achseln und sagte: »Ich höre, Großmutter ist ziemlich aufgebracht darüber, daß du sie nicht wie vereinbart besucht hast.«
Das hatte ich ganz vergessen! »Aber einer von euch hat ihr doch sicher gesagt…«
Anna machte sich an ihren weiten Chiffonröcken zu schaffen. Es begann mich zu ärgern, daß sie dauernd auszuweichen versuchte und nicht imstande war, das zu sagen, was sie wirklich beschäftigte. »Großmutter ist der Ansicht, daß einmal getroffene Verabredungen unter allen Umständen eingehalten werden müssen, ganz gleich, was geschieht. Du weißt doch, wie sie ist.«
»Nein, das weiß ich nicht. Erzähl’ mir etwas über sie, bitte.« Anna sprangen fast die Augen aus dem Kopf. »Du erinnerst dich nicht an Großmutter Abigail?« rief sie in einem Ton, als hätte ich ihr soeben erklärt, daß ich Jesus Christus vergessen hatte. »Aber ich dachte, du erinnerst dich an uns alle!«
»Cousine Leyla erinnert sich an weit weniger als sie zuzugeben bereit ist.«
Ich warf Colin einen zornigen Blick zu. Es schien ganz so, als sollte das Versteckspiel weitergehen, als hätte Theos Bericht nichts gelöst. Diesmal kam Martha mir zu Hilfe. Sie trat zu ihrem Bruder und drohte ihm mit dem Zeigefinger wie einem kleinen Jungen. »Du bist ein unverschämter Flegel, Colin. Du siehst doch, daß du Leyla unglücklich machst. Ich mache dir jetzt einen Vorschlag, lieber Bruder: Entweder du bist von jetzt an höflich, oder du verläßt den Raum.«
Mit einem entwaffnenden Lächeln zuckte er wieder die Achseln. »Was kann ich darauf sagen? Verzeih mir, Leyla. Wärst du bereit, mir zum Zeichen deiner Vergebung zu erlauben, dir morgen das Grundstück zu zeigen?«
Ich hatte schon ein scharfes ›Nein‹ auf der Zunge, als ich den Blick auffing, den Anna und Martha wechselten. In beider Augen meinte ich Furcht zu sehen, und genau das veranlaßte mich, Colins Einladung anzunehmen. Colin mochte frech und unverschämt sein, aber er schien mir bisher der einzige Ehrliche in dieser Familie. Und wenn es über meinen Vater und meinen Bruder noch mehr zu erfahren gab, so wollte ich keine Zeit verlieren.
In diesem
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