Lockruf der Vergangenheit
Augenblick kam Theodore ins Zimmer, wie immer sehr elegant und sehr gepflegt. Er begrüßte zuerst seine Mutter, dann Martha und zuletzt mich und entschuldigte sich für seine Abwesenheit.
»Ich war bei Großmutter. Ihr wißt ja, wie schwierig es ist, sie zu beschwichtigen. Ich denke, das Wetter setzt ihr zu. Der Wind und die plötzliche Kälte. Sie möchte dich morgen zum Tee sehen, Leyla. Ich habe ihr erklärt, warum du heute nicht zu ihr gekommen bist.«
»Danke.«
»Bißchen kühl hier, nicht wahr?«
»Ich finde es angenehm«, erwiderte ich, da ich dem Feuer am nächsten saß.
Theo ergriff meine Hand, um die Temperatur festzustellen, und als ich lachend abwehrte, fiel mein Blick auf den großen Rubinring am Mittelfinger seiner rechten Hand. Impulsiv hielt ich die Hand fest. »Dieser Ring«, sagte ich verwirrt. »Was ist mit ihm?«
»Ich – ich…« Die Erinnerung wollte nicht greifbar werden. Ich ließ Theos Hand los. »Ach, nichts wahrscheinlich. Ich hatte den Eindruck, ich kenne ihn von früher. Er erschien mir plötzlich so vertraut, aber das war gleich wieder vorbei.«
»Solche Ringe gibt es viele.« Er hob die Hand nahe vor sein Gesicht und kniff die Augen zusammen. »Der Stein ist nicht lupenrein, glaube ich. In London hast du so etwas sicher schon einmal gesehen.«
»Ja, wahrscheinlich.«
»Der Ring gehörte Großvater«, warf Colin ein. »Und er vererbte ihn an Theo, als er starb.«
»Dann erinnere ich mich vielleicht doch an ihn. Ich habe ihn sicher an Großvaters Hand gesehen, als ich noch ein Kind war. Es ist nur ein Bruchstück einer Erinnerung, aber es bedeutet mir sehr viel. An Menschen und Gesichter kann ich mich überhaupt nicht erinnern; aber bei so kleinen Dingen rührt sich manchmal etwas.«
»Und sonst erinnerst du dich an nichts?« fragte Henry. »Nein«, gestand ich.
»An gar nichts?« Anna starrte mich ungläubig an. »Du erinnerst dich an gar nichts?«
»Für mich ist es, als hatte mein Leben erst mit meinem sechsten Geburtstag angefangen.«
»Aber du warst doch so glücklich hier«, sagte Anna mit gepreßter Stimme.
»Sie hat hier aber auch sehr Schlimmes erlebt«, warf Colin ein. »Es ist schon merkwürdig, daß Leyla keinerlei Erinnerungen hat. Was meint ihr, woher das kommt?«
»Viele Menschen haben keine Erinnerungen an ihre frühe Kindheit«, behauptete Henry, der breitbeinig, die Hände auf dem Rücken, vor dem Kamin stand.
Ich sah keinen Grund, es ihnen länger zu verheimlichen. »Das war einer der Gründe, warum ich schließlich hierher gekommen bin – um die Erinnerung an meine frühen Jahre wiederzufinden. Ich glaubte, das Wiedersehen mit euch und dem Haus würde mir dabei helfen.«
»Und hat es geholfen?« fragte Anna beinahe ängstlich. »Nicht sehr. Das Haus ist mir gänzlich unvertraut. Und auch ihr seid mir fremd.«
»Aber an mich hast du dich erinnert.«
»Ja, Martha, als du in die Bibliothek kamst, sah ich dich plötzlich, wie du vor zwanzig Jahren warst.«
»Zwölf Jahre alt und zu groß für mein Alter.«
»Ja, aber du warst damals schon so hübsch wie heute.«
»Und sonst erinnerst du dich an keinen von uns?« fragte Anna. Ich vermied es, Henry anzusehen. »Nein, an keinen. Ab und zu blitzt mal etwas auf. Es ist als ob ein Vorhang sich öffnet und gleich wieder zufällt. Nie wird der Eindruck greifbar.«
»Ich wette, wenn du morgen bei Großmutter bist, wirst du dich an einiges erinnern. Du hattest immer große Angst vor ihr.«
»Wer hat die nicht?« fragte Colin.
Anna neigte sich etwas näher zu mir. »Hast du denn deine Mutter nie nach der Vergangenheit gefragt?«
»Doch, sehr oft sogar, zumindest am Anfang. Aber sie antwortete entweder gar nicht oder nur ausweichend. Nach einer Weile begriff ich, daß ich nicht fragen sollte, und tat es nicht mehr. Ich bin froh, daß ich sie nicht gedrängt habe; es hätte sie nur gezwungen, mir noch mehr Lügen zu erzählen. Sie wollte mich schützen.«
»Und was glaubst du, wovor sie dich schützen wollte?« fragte Colin in herausforderndem Ton. Er fing an, mir auf die Nerven zu gehen. Zum Glück kam in diesem Moment Gertrude mit dem Tablett ins Zimmer. Anna half ihr, den kleinen Tisch zu decken, der neben meinen Sessel geschoben wurde. In stillschweigender Übereinstimmung zogen die drei Männer sich aus dem Salon zurück; Martha zog eine Stickerei aus ihrem Pompadour und war bald in ihre Arbeit vertieft, während Anna nachdenklich an meiner Seite sitzenblieb.
Es wurde ein ruhiger, friedlicher
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