Lockruf der Vergangenheit
Abend. Die nagenden Zweifel, die mir immer wieder in den Sinn kamen, unterdrückte ich. Ich hatte nur den Wunsch, wieder zu dieser Familie zu gehören, wie ich offensichtlich früher zu ihr gehört hatte.
Nach meinem Abendessen kehrten die Männer in den Salon zurück, und Martha spielte für uns etwas auf dem Klavier. Ehe wir uns danach alle zurückzogen, erinnerte mich Colin an mein Versprechen, ihn am folgenden Tag bei einem Rundgang über das Grundstück zu begleiten. Ich bedauerte jetzt, zugesagt zu haben, aber mit Henry oder mit Theo, dessen tadellose Wohlerzogenheit sehr abweisend auf mich wirkte, wäre ich auch nicht lieber gegangen.
Ich nahm den Führer durch den Cremorne Park mit zu Bett und gab mich Gedanken an Edward hin. Ich rief mir unsere erste Begegnung ins Gedächtnis, die vielen schönen Stunden, die wir seitdem miteinander verbracht hatten. Edward war ein wunderbarer Mann, ich konnte mich glücklich preisen, daß er mich gewählt hatte. Doch in der Nacht träumte ich von Colin Pemberton.
Als ich am folgenden Morgen erwachte, heulte ein derartiger Wind ums Haus, daß die Bäume unter seiner Gewalt ächzten und seufzten. Beim Frühstück war die ganze Familie versammelt, es herrschte eine Atmosphäre allgemeinen Wohlwollens, die mir guttat und mich dem traurigen Nachdenken über das Schicksal meines Vaters und meines Bruders entriß.
Martha und Anna wollten zusammen mit Henry, der die Fabrik aufsuchen wollte, nach East Wimsley fahren. Sie machten diese Fahrt gewöhnlich zweimal im Monat, um dem Pastor ihre Aufwartung zu machen und ihm Kleider für die Armen zu spenden. In East Wimsley gab es, wie ich ihren Gesprächen entnahm, sehr viel Armut und eine große Arbeitersiedlung.
»Wenn die Pembertons nicht wären«, bemerkte Henry bei Toast und Marmelade, »hätten diese Leute nicht einmal Arbeit. Sie würden wie so viele andere dem allgemeinen Exodus in die Großstädte und die übervölkerten Elendsviertel folgen. Wir müssen dafür sorgen, daß die Bauern auf dem Land bleiben können, dort, wo sie hingehören.«
»Es kommt nur von der Eisenbahn, Vater«, bemerkte Theo, der stets ängstlich darauf bedacht schien, genau das Richtige zu sagen. »Vor der Dampfmaschine konnten die Bauern gar nicht weg. Jetzt können sie jederzeit für einen Penny die Meile mit der ganzen Familie und ihrer Habe gehen, wohin sie wollen. Darum ist es auch in London so schlimm geworden.«
»So schlimm ist es in London gar nicht«, warf ich ein. »Natürlich ist es dort schrecklich laut, immer mehr Menschen drängen in die Stadt. Aber wir haben die besten Krankenhäuser der Welt.«
»Ach, was! Die würden wir gar nicht brauchen, wenn die Städte sauberer wären.« Damit war mein Einwand für Henry erledigt. Es lag auf der Hand, daß die Meinung einer Frau für ihn nicht zählte. »Leyla, mein Kind«, mischte sich Anna ins Gespräch, »hast du denn für dieses schreckliche Wetter auch die richtige Kleidung mitgebracht? Ich denke, du hast etwa Marthas Größe, und ich – «
»Danke, Tante Anna. Ich habe Garderobe genug. Ich habe gelernt, bei Kleidung mehr auf Nützlichkeit als Eleganz zu achten.«
»Man kann beides haben…« Sie betrachtete mein Kleid, und ich sah ihr an, daß sie es recht armselig fand. »Ich komme schon zurecht, vielen Dank.«
Zum erstenmal schaltete sich Colin ein. »Ich glaube, Tante Anna meint, daß du jetzt, da du wieder zur Familie gehörst, du dich auch kleiden solltest wie eine Pemberton.«
»Ach ja, schneidern wir doch ein paar neue Kleider für dich, Leyla«, rief Martha. »Das würde mir Spaß machen.«
Colin beobachtete mich gespannt. Ich konnte mir ganz gut vorstellen, was er dachte: Die gute Cousine ist in den Schoß der Familie zurückgekehrt, um an ihrem Wohlstand teilzuhaben und ein luxuriöses Leben zu führen.
»Das ist wirklich lieb von dir, Martha, aber wenn ich heirate, lasse ich mir sowieso eine neue Garderobe machen.«
»Ach, natürlich!« Martha wurde noch lebhafter. »Und die Hochzeit findet hier, in Pemberton Hurst, statt.«
»Was?!« rief Henry scharf.
»O nein«, protestierte ich. »Das hatte ich nicht vor. Ich wollte nur eine kleine Feier in der Kirche mit ein paar Freunden – «
»Aber, Leyla! Feiern wir doch hier. Meinst du nicht auch, Tante Anna? Wir haben hier schon seit Ewigkeiten keine Hochzeit mehr gehabt. Es wäre so schön. Nicht wahr, Onkel Henry?«
»Ich nehme an, Leyla und ihr Verlobter haben bereits ihre eigenen Pläne«, sagte Henry
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