Lockruf der Vergangenheit
hatte. Ich sehe jetzt, daß wir recht hatten, Stillschweigen zu bewahren.« Ich hob den Kopf und sah Theo an. »Ja, natürlich«, sagte ich. »Ich verstehe.«
»Wir wußten, daß Colin mit dir darüber sprechen würde, ohne Rücksicht darauf, ob du etwas davon wußtest oder nicht. Ich bin froh, daß ich es dir jetzt sagen konnte. Früher oder später hätte er es dir auf jeden Fall erzählt.«
»Ja, Theo, ich danke dir.« Dies also war der Grund, weshalb sich alle mir gegenüber so seltsam verhalten hatten. Dies war die Lösung. Mein Vater hatte einen Mord verübt und sich dann selbst das Leben genommen. Kein Wunder, daß diese Menschen sich in meiner Anwesenheit zutiefst unbehaglich fühlten. »Ehrlich gesagt, Theo, ich würde jetzt lieber auf den Rundgang verzichten, wenn es dir nichts ausmacht. Ein andermal vielleicht.«
»Natürlich, das verstehe ich.«
»Weißt du, es ist – es ist als hätte ich meinen Vater und meinen Bruder soeben noch einmal verloren. Zwanzig Jahre lang glaubte ich, sie seien an der Cholera gestorben. Und jetzt erfahre ich, daß sie – daß sie auf ganz andere Art ums Leben gekommen sind. Es ist, als wären sie zweimal gestorben. Ich kann es dir nicht beschreiben. Innerhalb von zwei Monaten habe ich vier Menschen verloren. Meine Mutter und meinen Vater – « Ich ging wie in Trance zur Tür – »Thomas und Tante Sylvia. Ich wünsche so sehr, ich hätte sie gekannt. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es ist, um Menschen zu trauern, an die du nicht einmal eine Erinnerung hast. Bitte, entschuldige mich jetzt.«
Er öffnete mir die Tür und begleitete mich durch den Flur. Am Fuß der Treppe wandte ich mich ihm noch einmal zu und sagte: »Ich würde gern allein hinaufgehen, Theo, wenn es dir recht ist.«
»Brauchst du wirklich keine Hilfe?«
Ich lachte ein wenig. »Aber nein. Ich bin es gewöhnt, allein zurechtzukommen. Entschuldige mich bitte bei den anderen, ja?«
Die Stufen glitten unter mir hinweg, als flöge ich aufwärts, ohne sie mit den Füßen zu berühren. Mein Kopf war leer und wie von dicken Schleiern umhüllt. Der Schock dieser Nachricht ging viel tiefer, war viel schmerzhafter als der über Sylvias Tod, denn mit dieser neuen Erkenntnis veränderte sich alles: Pemberton Hurst und meine Familie, meine Mutter, die vergangenen zwanzig Jahre, und letztlich veränderte sie auch mich.
Ich weiß nicht, wie lange ich an jenem Tag auf meinem Bett lag, aber als ich endlich den Kopf hob und zum Fenster schaute, sah ich, daß die schräg einfallenden Strahlen der Sonne schon den rötlichen Schimmer des Abends hatten. Ich hatte mich viele Stunden meinem Schmerz überlassen.
Ich hatte noch einmal um meinen Vater getrauert, der ein Mörder war. Ich hatte die tiefen Ängste und Qualen seiner Seele beweint, die er gelitten haben mußte, um eine solche Tat zu begehen. Ich weinte mir die Augen aus dem Kopf um diesen armen, gequälten Wahnsinnigen und den kleinen Jungen, meinen Bruder Thomas, den er mit sich in den Tod genommen hatte.
Vater, schrie mein Herz, hast du darum das Messer gegen dich selbst gerichtet? Hattest du einen einzigen lichten Moment, in dem du – zu spät – erkanntest, was du getan hattest, und es nicht ertragen konntest? Ich weinte auch um meine Mutter, die zwanzig Jahre lang in Leid und Einsamkeit in London in Armut gelebt hatte, um das Kind, das ihr geblieben war, vor der Vergangenheit und der Gegenwart zu schützen. Nun hatte ich gefunden, was ich hier in Pemberton Hurst gesucht hatte: meine Familie und meine Vergangenheit. Und jetzt wünschte ich, ich wäre nicht gekommen. Was mußte meine Mutter all die Jahre hindurch gelitten haben! Und immer, wenn sie in mein Gesicht gesehen hatte, hatte sie die Gesichter ihres Mannes und ihres Sohnes gesehen. Ach, hätte sie diese grauenvolle Last nur mit mir geteilt! Hätte sie nur mit mir gesprochen, damit ich das Leid mit ihr hätte tragen können. Aber sie hatte mich geschont. Sie hatte als die mutige Frau, die sie gewesen war, die ganze Last allein getragen, um mir Schmerz und Kummer zu ersparen. Und alles vergeblich. Denn nun hatte ich doch erfahren, was sie zwanzig Jahre lang vor mir verborgen hatte.
Draußen wurde es dunkel, und es blies ein grimmiger Wind. Ich spürte, daß ich hungrig war. Ich hatte zehn Stunden in diesem Zimmer verbracht und die Vergangenheit betrauert. Es war an der Zeit, in die Gegenwart zurückzukehren. Schon um meiner Mutter willen, die nicht gewollt hätte, daß ich wie sie
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