Lockruf der Vergangenheit
Verbindung bringen, dann hatte man den Ring vielleicht verschwinden lassen, damit durch seinen Anblick nicht klarere Erinnerungen bei mir ausgelöst werden würden.
Das war eine Erklärung, gewiß, aber sie war unzulänglich. Ich konnte mich des Gefühls nicht erwehren, daß mehr hinter dem Diebstahl steckte. Das Dickicht schien immer undurchdringlicher zu werden. Nach dem, was im Zimmer meiner Großmutter geschehen war, wollte ich das Abendessen nicht mit der Familie einnehmen und ließ es mir statt dessen auf mein Zimmer bringen. Dann machte ich es mir auf dem Sofa am Kamin gemütlich, nahm mir den Führer durch den Cremorne Park vor und flüchtete mich für eine Weile in Erinnerungen an glückliche Tage mit Edward. Nochmals zu versuchen, ihm zu schreiben, hatte keinen Sinn. Ich hielt es im übrigen auch nicht mehr für nötig. Ich war überzeugt, daß es mir auch allein gelingen würde, das Geheimnis dieses Hauses zu lüften.
Es war schon spät, als ich zu Bett ging, und erst, als ich meine Kerze löschen wollte, bemerkte ich das Buch. Es lag neben den beiden anderen Büchern, die ich aus London mitgebracht hatte, auf dem Nachttisch. Nachdem ich es einen Moment lang verwundert angesehen hatte, nahm ich es und zog die Kerze näher heran. Mit einer Mischung aus Überraschung und Argwohn drehte ich das Buch in den Händen. Es war ein altes Buch, sehr schön, in schwarzes Leder gebunden. Der Titel, der in verblaßter Goldschrift auf dem Rücken stand, lautete: ›Die gesammelten Werke Thomas Willis‹.
Ich runzelte verwirrt die Stirn. Ich fragte mich, aus welchem Grund man mir das Buch auf den Nachttisch gelegt hatte. Meine Kerze flackerte im Luftzug, der durch die Fensterritzen drang. Die Uhr über dem Kamin, in dem kein Feuer mehr brannte, tickte ruhig und gleichgültig. Dann schlug ich das Buch auf. Mr. Willis persönlich sah mich mit ernstem Blick an, ein charaktervolles, kluges Gesicht in ovalem Rahmen mit der Inschrift ›Thomas Willis, Medic Professor Collegii Med, London et Societ Reg Socius‹. Die klaren Augen über den ausgeprägten Wangenknochen und der hervorspringenden Nase waren von buschigen Brauen überschattet. Der schmallippige Mund unter dem kleinen Bärtchen zeigte ein feines Lächeln. Der Mann war in einer Weise gekleidet, die an die Zeit Cromwells erinnerte und die von seinem Rang und seinem Ansehen Zeugnis ablegte. Unter dem ovalen Porträt standen die Worte, »Thomas Willis (1621 – 1675) im Alter von 45 Jahren, Kupferstich von Isabella Piccini. Frontispiz entnommen aus Opera omnia 1694«. Dem Titelblatt entnahm ich, daß diese Sammlung von Willis’ Werken von Sir Anthony Cadwallader, Professor in Oxford, zusammengestellt und 1822 von Mortimer and Sons in London veröffentlicht worden war. Noch immer höchst verwundert und ohne die geringste Vermutung, wer mir dieses Geschenk gemacht hatte, und warum, blätterte ich weiter zum Inhaltsverzeichnis. Und da begriff ich endlich.
Hier waren alle in diesem Band enthaltenen Werke aufgeführt, jedes mit einer kurzen Beschreibung versehen:
›Pharmaceutice rationalis oder eine Untersuchung der Wirksamkeit von Medizinen im menschlichen Körper‹ – ›De febribus oder Fibererkrankungen und -epidemien‹ – ›Anatomie des Gehirns samt seiner genauen Darstellung des Nervensystems und des Nervenkreises an der Gehirnbasis (Circulus genannt Willisi)‹ und zum Schluß ›Medizinische Praxis‹, ein Werk, in dem er ›heimtückische und seuchenartige Fibererkrankungen‹ beschrieb.
Es war nicht schwer zu erkennen, daß mir das Buch zur Aufklärung über die erbliche Krankheit der Familie Pemberton dienen sollte. Weshalb sonst hätte man es mir ins Zimmer legen sollen? Doch war ich weder sonderlich an der Medizin interessiert, noch sammelte ich alte oder seltene Bücher. Wer immer sich heimlich in dieses Zimmer geschlichen und mir dieses Buch auf den Nachttisch gelegt hatte, mußte damit gerechnet haben, daß ich mir das Inhaltsverzeichnis ansehen und dabei auf eine ganz bestimmte Passage in diesem Buch stoßen würde. Und was konnte diese Passage anderes enthalten, als irgendwelche Belehrungen über eine Krankheit, die dem angeblichen Leiden der Pembertons glich? Ich betrachtete das Buch mit Bitterkeit. Was sollte das? Einer meiner Verwandten hatte mir heimlich – vielleicht, weil er meine Reaktion fürchtete, wenn er es mir persönlich gegeben hätte – das Buch ins Zimmer gelegt und hoffte nun, daß ich die richtige Stelle finden würde. Warum
Weitere Kostenlose Bücher