Lockruf der Vergangenheit
aber? Wozu? Um mir zu zeigen, wie bedauernswert diese ganze Familie war, und um mich dadurch versöhnlich zu stimmen? Um mir zu beweisen, daß die Krankheit der Pembertons keine Erfindung war, und um mich dadurch zu veranlassen, meinen Zorn auf die Familie zu bereuen?
Was auch der Grund sein mochte, ich war nicht bereit, mich rühren zu lassen. Dieses Buch war eine List, und das verärgerte mich nur noch mehr. Ganz gleich, was dieser Thomas Willis zu berichten hatte, auf meine Anteilnahme konnten die Pembertons nicht zählen. Sie hatten mich verletzt, waren grausam und egoistisch. Mochte dieser wahrscheinlich einst berühmte Arzt über eine Krankheit geschrieben haben, die der der Pembertons ähnlich war, mich interessierte das nicht. Daß man mir dieses Buch zur Kenntnis bringen wollte, war nichts als Taktik. Ich würde mich davon nicht einfangen lassen.
Zornig warf ich das Buch zu Boden, löschte die Kerze und zog mir die Bettdecke zurecht. Aber so müde ich auch war, ich konnte nicht einschlafen. Statt dessen mußte ich unablässig an das Buch denken. Was konnte dieser vergessene alte Wissenschaftler, nach dem man ein Netz von Arterien benannt hatte, schon geschrieben haben, das für mich von Bedeutung war?
Ungeduldig warf ich mich auf die andere Seite und versuchte, die richtige Lage zum Einschlafen zu finden. Während ich mit fest geschlossenen Augen dalag und draußen der Wind in den Bäumen seufzte, ging mir unaufhörlich Cadwalladers Buch durch den Kopf, wobei mich angesichts des angeblichen Leidens meiner Familie besonders beschäftigte, welche Erkenntnisse wohl jenen Kapiteln über die ›Anatomie des Gehirns‹ und die ›heimtückischen und seuchenartigen Fibererkrankungen‹ zu entnehmen waren.
Ich öffnete die Augen. Ich würde ja doch nicht einschlafen können, das wußte ich jetzt, ehe ich jene Passage in Willis’ Werk entdeckt hatte, die sich auf die Pembertons beziehen ließ. Wer immer mir das Buch auf den Nachttisch gelegt hatte – Anna, Theo, Colin oder Martha –, wußte genau, daß die Neugier mir keine Ruhe lassen und mich dazu treiben würde, so lange in dem Buch zu suchen, bis ich die entscheidende Stelle gefunden hatte.
Ich gab meiner Neugier also doch nach, stieg aus dem Bett, schlüpfte in meinen Schlafrock, zündete ein kleines Feuer im Kamin an und setzte mich im Schein einer Öllampe mit Thomas Willis’ ›Gesammelten Werken‹ aufs Sofa.
Die Biographie des Mannes war interessant. 1621 wurde er in Great Bredwyn in Wiltshire geboren. Er studierte die Medizin in Oxford und ließ sich dort auch als Arzt nieder. Später erhielt er die Doktorwürde; 1660 wurde er Professor und lehrte an der Universität von Oxford Naturphilosophie; er war Mitbegründer der Royal Society. 1667 ließ er sich in London nieder, wo er großes Ansehen genoß, wurde in das Royal College of Physicians aufgenommen und schließlich zum königlichen Leibarzt berufen. Er zeichnete sich als genauer klinischer Beobachter und Verfasser bemerkenswerter Abhandlungen aus. Im Jahre 1675 starb Thomas Willis und wurde in der Westminster Abbey bestattet. Thomas Willis, dachte ich mir, war offenbar ein hochgelehrter Mann gewesen, dessen Befunden man zweifellos vertrauen konnte. Der erste Teil des Buches war der längste und mühsamste, und ich entdeckte darin nichts, was mit der Familie Pemberton in irgendeinem Zusammenhang hätte stehen können. Die folgenden Kapitel waren so wissenschaftlich, daß ich nichts verstand und rasch zum letzten ›Medizinische Praxis‹ überging, jenem Kapitel, in dem unterschiedliche Fieberkrankheiten beschrieben wurden.
Während die Uhr gleichmäßig tickte und der Wind an meinen Fenstern rüttelte, begann ich, mich durch die in veraltetem Stil niedergeschriebene Abhandlung zu arbeiten.
»XIV. Kapitel – von seuchenartigen und heimtückischen Fiberkrankheiten
Da wir nunmehr die Natur der Seuche aufgezeigt haben, sollten wir, der Ordnung unserer Abhandlung gemäß, zu jenen Krankheiten fortschreiten, die ihr dem Wesen nach am nächsten sind, nämlich vor allem solche Fiberkrankheiten, die man als seuchenartig und heimtückisch bezeichnet. Es ist allgemein bekannt, daß Fiberkrankheiten zuweilen weit um sich greifen und an Heftigkeit der Symptome, an Tödlichkeit und Ansteckungskraft der Seuche kaum nachstehen; jedoch, da sie nicht mit solcher Sicherheit wie die Seuche die Erkrankten hinwegraffen und auch nicht in so hohem Maße ansteckend sind, verdienen sie nicht den Namen der Seuche,
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