Lockruf der Vergangenheit
wahrscheinlich noch am längsten Zeit. Aber meine Vettern – Theo ist fast vierzig. Und Martha ist zweiunddreißig. Ich fühle mich so entsetzlich hilflos!«
»Und Ihr Vetter Colin?« Ich hob den Kopf und sah ihn an. »Colin?«
»Er ist vierunddreißig.«
»Ja, um ihn habe ich auch Angst.« Ich sah Dr. Young forschend ins Gesicht, versuchte, von seinen Augen abzulesen, was er wußte. Hatte er als scharfsichtiger Beobachter meine Gefühle für Colin wahrgenommen?
»Ich kann den Gedanken nicht ertragen, daß wir alle verloren sind. Dr. Young, Sie haben doch die Werke von Thomas Willis gelesen, nicht wahr?«
»Thomas Willis?« Er schürzte nachdenklich die Lippen. »Ja, ich habe sie gelesen. Aber damals studierte ich noch.«
»Wir haben hier im Haus ein bestimmtes Buch, das seine Schriften enthält und von einem gewissen Cadwallader zusammengestellt wurde. Erinnern Sie sich seiner kurzen Abhandlung über den Pemberton Tumor?«
Dr. Young lachte. »Soweit ich mich an Thomas Willis erinnere, schrieb er in endlos langen Sätzen, zeichnete verblüffende anatomische Diagramme und befleißigte sich einer sehr eigenwilligen Orthographie. Aber das ist auch alles, woran ich mich erinnere. Erwähnt er tatsächlich die Pembertons? Ich habe mich schon gefragt, wo die Wurzeln der Familiengeschichte liegen.«
»Ich habe das Buch, wenn Sie es lesen möchten.« Ich wollte aufstehen.
Dr. Young hielt mich zurück. »Nein, nein, bemühen Sie sich nicht, Miss Pemberton. Mein Haus ist bis unter die Dachbalken mit wissenschaftlichen Werken vollgestopft. Cadwalladers Buch ist gewiß auch darunter. Ich werde es bei nächster Gelegenheit heraussuchen und nachschlagen, was Mr. Willis über die Sache zu sagen hat. Möchten Sie sonst noch etwas mit mir besprechen, Miss Pemberton?« Er sah mich aufmerksam an.
Ich zögerte. Das einzige, was ich von ihm gewollt hatte, war nähere Auskunft über die Krankheit unserer Familie und vielleicht einen Funken Hoffnung für die Zukunft. Doch mir das zu geben, ging über sein Vermögen hinaus, das erkannte ich jetzt. Dr. Young war so fehlbar wie alle Menschen. Eines jedoch mußte ich noch wissen.
»Können Sie mir sagen, Doktor, mit welchen Anzeichen ich zu rechnen habe, wenn die Krankheit ausbricht?«
»Meine liebe Miss Pemberton, ich finde, sie beschäftigen sich viel zu sehr mit dieser Geschichte. Sie sollten sich nicht ständig damit belasten, mein Kind. Sie sind noch sehr jung und haben, da bin ich sicher, ein langes Leben vor sich. Vergeuden Sie nicht Ihre Zeit mit Mutmaßungen und Ängsten, die nichts Gutes bringen. Vergessen Sie die Geschichte. Versuchen Sie, Ihr Leben zu genießen.«
»Ich bin Ihnen dankbar für Ihre Ermutigung, Doktor, aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich trotzdem wissen, was ich zu erwarten habe.«
Danach schwieg Dr. Young lang, und mir wurde das Herz immer schwerer, während er mit nachdenklichem Gesicht schweigend vor mir saß. »Es handelt sich hier nicht um einen klassischen Gehirntumor, Miss Pemberton«, sagte er schließlich. »Die Symptome stimmen mit den Fallstudien aus den Lehrbüchern nicht überein. Das ist vermutlich darauf zurückzuführen, daß er in einer anderen Zone des Gehirns entsteht. Beim klassischen Gehirntumor zeigen sich Symptome wie Aphasie, also die Unfähigkeit zur sprachlichen Koordinierung oder zum Verstehen von Gesprochenem; Bewegungsstörungen der Arme und Beine; Sehstörungen; Übelkeit; Kopfschmerzen; Taubheit an manchen Stellen des Körpers. Kurz gesagt, Miss Pemberton, man erklärt sich dies so, daß an jenem Teil des Körpers, für den der Gehirnteil zuständig ist, wo der Tumor sitzt, sich Störungen zeigen. Fest steht beim Pemberton Tumor zwar, daß die Symptome, die ich bisher bei Ihrem Onkel festgestellt habe, genau mit denen übereinstimmen, die ich den Krankengeschichten Ihres Vaters und Sir Johns entnommen habe.«
»Ich verstehe.« Seine Worte trafen mich nicht unerwartet und doch empfand ich sie als niederschmetternd. »Und was sind das für Symptome, Doktor?«
»Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Unterleibsschmerzen, Muskelschwäche, Delirium, Schüttelkrämpfe und plötzlich eintretender Tod. Dr. Smythes Aufzeichnungen zufolge trat der Tod in allen Fällen ungefähr zwei Monate nach Erscheinen der ersten Symptome ein.«
»Aber Sie sagten doch eben, Sie seien schon vor einem Jahr bei meinem Onkel gewesen, weil er Kopfschmerzen hatte.«
»Gewiß, das ist richtig. Aber die Kopfschmerzen rührten damals von
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