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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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einer starken Erkältung her und hatten mit seiner gegenwärtigen Krankheit nichts zu tun. Man rief mich, weil er beunruhigt war.«
    »Ach, Dr. Young, ich bin so durcheinander«, sagte ich verzweifelt. »Vor einer Woche kam ich so zuversichtlich hier an, und jetzt ist plötzlich alles finster und schwarz. Seit dem Tod meiner Mutter – «
    »Ihre Mutter ist erst kürzlich gestorben?« fragte er. »Verzeihen Sie, aber als Sie neulich beim Abendessen erwähnten, Sie seien mit dem Tod in Berührung gekommen, glaubte ich, Sie sprächen von Ihrem Vater.«
    »Ja, sie ist erst vor zwei Monaten gestorben. Sie war vorher sehr lange krank. Dr. Harrad hatte mich darauf vorbereitet – «
    »Dr. Harrad?« rief er. »Verzeihen Sie, daß ich Sie schon wieder unterbreche, Miss Pemberton, aber was Sie mir da erzählen, überrascht mich. Ihre Mutter wurde von Dr. Oliver Harrad vom Guy’s Krankenhaus behandelt?«
    »Ja. Warum?«
    Dr. Young war auf einmal sehr lebhaft geworden. »Ich war mit Oliver Harrad befreundet. Wir studierten zusammen. Später fingen wir beide im Guy’s Krankenhaus an und hatten lange Jahre eine gemeinsame Praxis. Als ich nach Edinburgh ans Königliche Krankenhaus ging, um mich der Forschungsarbeit zu widmen, versprachen Oliver und ich uns, Kontakt zu halten und uns zu schreiben. Aber wie das häufig der Fall ist, wenn Freunde weit getrennt voneinander leben, wurde unser Briefwechsel immer spärlicher und schlief schließlich ganz ein. Das muß jetzt mehr als zehn Jahre her sein.« Dr. Young blickte einen Moment lang sinnend in die Ferne. »Oliver Harrad, mein alter Freund. Er ist also immer noch am Guy’s…«
    »Er ist als Arzt sehr beliebt«, bemerkte ich.
    Dr. Young sah mich wieder an, mit Wehmut in den Augen. »Was haben Sie plötzlich für Erinnerungen geweckt, Miss Pemberton! Die Zeit mit Oliver Harrad liegt so lange zurück, und ich hatte immer soviel zu tun…«
    »Er hat sich sehr um meine Mutter bemüht. Ich werde ihm immer dankbar sein.«
    Ich hatte das Gefühl, daß sich Dr. Young durch die Erinnerungen, die ich ihm zurückgebracht hatte, mir ungewöhnlich nahe fühlte. Er sah mich an, wie man gewöhnlich einen Freund ansieht, mit dem man vieles geteilt hat, und seufzte ein wenig.
    »Es ist doch seltsam«, meinte er nachdenklich. »Gerade wenn wir die Vergangenheit begraben und vergessen haben, bringt ein Wort sie uns so frisch und lebendig zurück, daß man glaubt, es sei erst gestern gewesen. Oliver Harrad und ich waren in unseren jungen Jahren enge Freunde, hitzige Rebellen, die glaubten, sie könnten mit ihrem Unternehmungsgeist die Welt verändern. Wir sind wohl beide bescheidener geworden und haben eingesehen, daß wir uns, statt große Sprünge zu machen, mit kleinen Schritten begnügen müssen. Ach, ist das ein schöner Zufall, daß Sie meinen alten Freund Harrad kennen, Miss Pemberton.«
    »Das freut mich, Dr. Young«, erwiderte ich und erinnerte mich mit plötzlichem Schmerz daran, wie ich selbst noch vor wenigen Tagen um die Rückeroberung der Vergangenheit gerungen hatte. Dr. Young wollte eben etwas sagen, da klopfte es. »Herein«, rief ich, und Gertrude trat ein. »Entschuldigen Sie, Miss Leyla, aber Mrs. Pemberton schickt mich.«
    »Oh, Tante Anna möchte wohl mit Dr. Young sprechen?«
    »Nein, Miss Leyla, mich schickt nicht Mrs. Anna, sondern Mrs. Abigail Pemberton, Ihre Großmutter. Sie ist jetzt bei Mr. Pemberton und wünscht den Doktor zu sehen.«
    Ich erschrak. Wenn meine Großmutter, die kaum je ihre Räume verließ, es für nötig gehalten hatte, Henry aufzusuchen, konnte das nur eines bedeuten.
    »Onkel Henry!« Ich sprang auf. Augenblicklich war Dr. Young an meiner Seite.
    »Ich werde mich um ihn kümmern«, sagte er beschwichtigend. »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde alles für ihn tun, was in meiner Macht steht.«
    Dankbar drückte ich ihm die Hand. »Danke«, sagte ich leise und sah ihm niedergeschlagen nach, wie er mit Gertrude zur Tür hinausging.
     
     
    Mein Abendessen nahm ich wieder allein ein. Vorher hatte ich versucht, Henry zu sehen, aber meine Großmutter hatte mir den Zutritt zu seinem Zimmer verwehrt. Ich sah sie nur einmal ganz flüchtig, als ich spät abends, von Stimmen aufmerksam gemacht, meine Zimmertür öffnete.
    Sie ging hochaufgerichtet wie eine Königin an mir vorüber den Flur entlang. Später schaute Martha kurz zu mir herein, um mir mitzuteilen, daß sich der Zustand Henrys weiter verschlechtert hatte. Anna und Theo , bekam ich nicht zu

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