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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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sehen. Und auch Colin nicht.
     
     
    Der folgende Tag war grau und kalt. Wieder blies ein heftiger Wind, der dunkle Sturmwolken über den Himmel trieb. Am Morgen wanderte ich rast- und ziellos durch das Haus, ohne einem Menschen zu begegnen. Die einzigen Anzeichen von Leben in diesem düsteren Gemäuer nahm ich wahr, als ich an den Räumen meiner Großmutter vorüberkam. Da hörte ich plötzlich ihre scharfe Stimme durch die massive Tür und blieb stehen. Ich hatte Großmutter noch bei Henry geglaubt. Ihre Stimme war laut, ihre Worte jedoch waren nicht zu verstehen. Ich konnte ihrem Ton entnehmen, daß sie sehr zornig war, aber den Grund dafür erfuhr ich nicht. Im nächsten Moment hörte ich gedämpftes Schluchzen. Es kam ebenfalls aus ihrem Zimmer, und schien mir zu verraten, daß meine Großmutter mit jemandem streng ins Gericht ging. Ich hatte den Eindruck, daß es eine Frau war, die da so bitterlich schluchzte, aber ich konnte nicht erkennen, wer es war. Es konnte sich ebensogut um Anna oder Martha wie um Gertrude oder eines der Mädchen handeln. Mit schlechtem Gewissen wegen meines Lauschens eilte ich davon. Am Nachmittag machte ich den Spaziergang, der mir nun schon zur Gewohnheit geworden war. Als ich bei meiner Rückkehr das Haus so still vorfand wie am Morgen, ging ich in mein Zimmer hinauf, setzte mich ans warme Feuer und ließ mir eine Tasse Tee bringen. Um acht Uhr servierte mir ein Mädchen das Abendessen, und um neun ging ich zu Bett und schlief sofort ein.
    Es mußte gegen Mitternacht sein, als ein Schrei mich weckte. Aus tiefem Schlaf gerissen, fuhr ich in die Höhe und spähte angestrengt in die Dunkelheit. Hinter meiner Tür hörte ich Stimmen und Schritte. Als der zweite gellende Schrei durch das Haus hallte, sprang ich aus dem Bett und lief zur Tür.
    Ohne mich darum zu kümmern, daß ich im Nachthemd war und nichts an den Füßen hatte, lief ich in den Flur hinaus und sah Martha schlaftrunken aus ihrem Zimmer kommen. Halb benommen noch sah sie mich an, rieb sich die Augen und murmelte irgend etwas, das ich nicht verstand. Ich stand noch unschlüssig an der offenen Tür, als ein dritter markerschütternder Schrei die Stille des Hauses zerriß. Diesmal erkannte ich die Stimme. Es war Anna, die da so grauenvoll schrie.
    Ich vergeudete keine Zeit. Ich nahm rasch meinen Morgenrock und rannte, dabei in die Ärmel schlüpfend, den Flur hinunter. Martha folgte mir nach.
    Die Tür zum Zimmer von Henry und Anna stand offen. Es war niemand darin. Neuerliche Schreie führten mich weg von unserem Flügel zu den unbewohnten Räumen des Hauses. Obwohl mir zum Nachdenken überhaupt keine Zeit blieb, klopfte mein Herz rasend vor Angst. Blind rannte ich vorwärts, immer den Schreien folgend.
    Sie führten mich in das nächste Stockwerk hinauf, die zweite Etage des Hauses, in einen Flügel, wo viele Jahre keine Menschenseele mehr gewesen war. Oben sah ich geisterhafte Lichter, und als ich näherkam, erkannte ich, daß es brennende Kerzen waren, getragen von denen, die mir vorausgeeilt waren.
    Schneller laufend jetzt, um die Gruppe einzuholen, nahm ich den modrigen Geruch wahr, der in diesem Korridor hing, die abgestandene Luft, die Spinnweben, die mir das Gesicht streiften. Annas Schreie wurden lauter, je mehr ich mich der Gruppe vor mir näherte, und nach einer Zeit hörte ich Colin rufen: »Tante Anna! Wo bist du?«
    Sie gab ihm Antwort, aber ihre Worte waren nicht zu verstehen. Ich hatte jetzt die anderen eingeholt. Instinktiv drängte ich mich zu Colin und rannte im Schein seiner Kerze neben ihm her. Es wunderte mich, daß er vollständig angekleidet war, während wir anderen – Dr. Young, Gertrude und ich – alle im Morgenrock waren. Unsere Angst vor dem, was sich uns zeigen würde, hing schwer in der Luft.
    Colin sah mich nicht an, sondern eilte ohne anzuhalten weiter, um in jedes Zimmer, jede Nische zu schauen. In seinen Augen war eine wilde Entschlossenheit, die mich ängstigte.
    Schließlich gelangten wir in einen schmalen Gang, der zu der Treppe des Ostturms führte, von dem zehn Jahre zuvor mein Großvater Sir John sich in den Tod gestürzt hatte. Von dort oben kamen die Schreie. Am Fuß der engen Treppe befahl Colin Gertrude mit den Kerzen unten zu bleiben, faßte mich dann zu meiner Überraschung bei der Hand und zog mich, nachdem er auch Dr. Young gebeten hatte zu warten, mit sich die Stufen hinauf.
    Wir hörten schon beim Hinaufgehen das heftige Schluchzen Annas. Als wir um die Ecke bogen,

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