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Lockruf der Vergangenheit

Lockruf der Vergangenheit

Titel: Lockruf der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: wood
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ohne zu überlegen, die letzte Stufe hinauf und ging ein paar Schritte ins Zimmer hinein.
    »Bunny, du solltest nicht hier sein. Du weißt… du solltest nicht hier sein.«
    Henry schien plötzlich bei klarer Vernunft zu sein und genau zu wissen, was mit ihm vorging. »Ich kann nichts dafür«, stieß er schluchzend hervor. »Es sind diese furchtbaren Schmerzen. Ach, Bunny, ich kann diese Schmerzen nicht aushalten. Es ist, als stünde mein ganzer Kopf in Flammen. Die Schmerzen treiben mich zum Wahnsinn. Ich kann nichts dagegen tun. Lieber Gott, hilf mir doch. Laß nicht zu, daß ich das gleiche tue wie mein Bruder.«
    Vorsichtig ging ich noch etwas näher zu ihm hin. Ich war mir bewußt, daß alle Augen auf mir ruhten. Ich war mir bewußt, wie steif und verkrampft meine Bewegungen waren, wie groß meine Angst war. Aber mit einem Mut, den ich mir selbst nicht zugetraut hätte, bot ich Henry meine Hand.
    »Du wirst nichts Unrechtes tun, Onkel Henry«, sagte ich. »Gib mir das Messer.«
    Seine Augen flammten auf. »Ich muß töten«, rief er. »Nur so kann ich den Schmerz beenden. O Gott, diese Schmerzen.« Seine Stimme schallte aus dem kleinen Zimmer weit in die Nacht. »Ich kann nichts dagegen tun!«
    »Gib mir das Messer«, wiederholte ich.
    Er sah mich wild an, doch ich blickte ihm weiterhin tief und ruhig in die Augen. Dann schob er mir mit einer schnellen Bewegung, bei der ich beinahe aufgeschrien hätte, den Messergriff in die Hand. »Nimm es weg! Schnell!« sagte er heiser.
    Ich wich augenblicklich zurück, während Colin und Theo vorwärtsstürzten, um meinen Onkel bei den Armen zu nehmen. Mir zitterten die Knie, als ich mich umwandte, um die Treppe hinunterzusteigen. Zum Glück war plötzlich Dr. Young an meiner Seite, legte mir den Arm um die Schulter und half mir die Stufen hinunter.
    Wie ein Trauerzug gingen wir durch die dunklen Flure zurück, Dr. Young und ich voran, dann Henry, der von Colin und Theo gehalten vorwärtstorkelte, zum Schluß die hemmungslos weinende Anna, die von Gertrude gestützt wurde.
    Als wir das Schlafzimmer meines Onkels und meiner Tante erreichten, tauschte Colin seinen Platz mit Dr. Young und nahm mich, da ich immer noch schwankte, in den Arm, während der Doktor Henry ins Bett half. Wir blieben an der Tür stehen und Colin nahm mir das Messer aus der Hand und gab es Gertrude. Er sagte kein Wort. Es sprach überhaupt niemand, bis mein Onkel in seinem Bett lag.
    Während Anna ihm die Stiefel auszog, und Dr. Young die Spritze vorbereitete, stieß Henry plötzlich einen röchelnden Schrei aus und fiel tief in die Kissen. Wir waren alle wie erstarrt. Der erste, der reagierte, war Dr.
    Young. Er umfaßte Henrys Handgelenk und stand ein paar Sekunden lang stumm und schweigend über ihm. Dann sagte er leise: »Henry Pemberton ist tot.«
    Anna fiel neben dem Bett auf die Knie und warf beide Arme über Henrys Körper. Dr. Young blieb ruhig an ihrer Seite stehen, während Theo sich wie betäubt in einen Sessel sinken ließ.
    Colin zog leise die Tür zu und führte mich weg. »Er hat es hinter sich, der arme Kerl.«
    Ja, dachte ich, er hat es hinter sich. Aber uns steht es noch bevor. Als wir mein Zimmer erreichten, drehte Colin sich um, so daß er mich ansehen konnte. Er legte seine Hände auf meine Schultern und sah mich lange schweigend an, ehe er schließlich sagte: »Das war sehr mutig von dir.«
    »Findest du?« sagte ich nur, immer noch so benommen, daß nicht einmal Colins Nähe, seine Berührung, seine warme Stimme zu mir durchdrangen. Die Empfindungslosigkeit, die mich befallen hatte, seit ich vor vier Nächten Thomas Willis’ Buch gelesen hatte, schien sich durch die Ereignisse dieser Nacht noch verstärkt zu haben. Was ich soeben miterlebt hatte, das hatte ich vor zwanzig Jahren, als kleines Mädchen, unten im Wäldchen schon einmal erlebt. Nur hatte ich in dieser Nacht das Schlimmste gerade noch verhindern können.
    »Du hast uns allen viel Schmerz und Kummer erspart«, sagte Colin. »Wir haben dir viel zu verdanken.«
    Doch ich war so verwirrt und erschöpft, daß ich mich nur in mein Bett zurücksehnte.
    »Gute Nacht, Colin.« Ich wollte mich umdrehen, aber er hielt mich fest.
    »Leyla«, sagte er, »du mußt mir etwas sagen.«
    »Was denn?«
    »Versuchst du gar nicht mehr, dich an früher zu erinnern?«
    »Das ist jetzt nicht mehr nötig.«
    »Dann glaubst du also, daß dein Vater und dein Bruder so umgekommen sind, wie man dir erzählt hat?«
    »Ja. Nach heute abend weiß

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