Lockruf der Vergangenheit
sonst noch Fragen?«
»Nein«, antwortete meine Großmutter stellvertretend für alle. Sie maß uns alle noch einmal mit kaltem Blick, dann wandte sie sich um und ging aus dem Zimmer.
Ich stand auf, als sie an mir vorüberkam, und auch Martha raffte ihre Sachen zusammen und erhob sich. Nur Anna blieb sitzen – es war, als hätte sie von allem überhaupt nichts bemerkt.
Als die schwere Eichentür hinter Gertrude, die meine Großmutter begleitete, zufiel, blieb gespannte Stille zurück. Colin und Theo sahen einander zornig an. Bei Theo überwog der Haß, bei Colin die Empörung. »Und ich sage dir, Colin, es war ein Testament da«, behauptete Theo. »Das kann sein. Mich darfst du danach nicht fragen. Mr. Horton weiß offensichtlich nichts davon – «
»Nein, ich weiß in der Tat nichts von einem Testament von Henry Pembertons Hand«, bestätigte Mr. Horton.
»Nun, es gibt Mittel und Wege«, schrie Theodore wütend. »Ich werde mir einen eigenen Anwalt nehmen und diese Sache vor Gericht bringen. Es gibt schließlich das Erbrecht des Erstgeborenen, und ich – «
»Verzeihen Sie, Mr. Pemberton, aber in diesem Fall werden Sie, denke ich, feststellen – «
»Ich stelle fest, Mr. Horton, daß Sie Ihre Pflicht hier getan haben. Wir bedürfen Ihrer Dienste jetzt nicht mehr.«
Jetzt stand Horton auf. Imposant wirkte er gewiß nicht, aber die Schärfe seiner Augen mahnte zur Vorsicht. »Darüber zu entscheiden, Sir, obliegt Mr. Colin Pemberton, dem neuen Herrn auf Pemberton Hurst.«
Theos Augen funkelten vor Wut, sein Gesicht war hochrot, die Adern an seinem Hals standen wie Stränge heraus. »Noch ist er nicht der Herr hier. Und ich werde verhindern, daß er es jemals wird.«
»Aber Theo, jetzt hör doch mal«, begann Colin blaß und beschwichtigend. »Ich wußte wirklich nicht – «
»Du, mein Bester, bist ein heimtückischer kleiner – «
»Ich lasse mich in meinem eigenen Haus nicht beleidigen!«
»Noch ist es nicht dein Haus, Colin Pemberton. Noch nicht!« Mein Kopf begann plötzlich wieder zu schmerzen. Es mußte am vielen Wein liegen, den ich zum Abendessen getrunken hatte. Und an diesem schrecklichen Streit zwischen Colin und Theo. Es war einfach zuviel. Als ich mich entschuldigte, reagierten die beiden Männer gar nicht, so sehr waren sie in ihre hitzige Auseinandersetzung verstrickt. Es bedrückte mich, sie so im Streit zu sehen, doch ich verspürte weder die Neigung noch hatte ich den Mut mich einzumischen. Der Weg hinauf zu meinem Zimmer erschien mir endlos. Die Gaslampen spendeten nur trübes Licht, kaum die Dunkelheit erhellend, die mich von allen Seiten umgab. Vor mir sah ich das Gesicht meines Onkels wie es in der vergangenen Nacht gewesen war: Die wilden Augen, in denen der Wahnsinn sich spiegelte, der höhnisch verzerrte Mund. Ich dachte an die entsetzlichen Qualen, die er vor seinem Tod hatte durchleiden müssen – die peinigenden Kopfschmerzen, die Übelkeit, das Erbrechen, die Leibschmerzen, den Fieberwahn, die Schüttelkrämpfe. Und ich fragte mich, wann meine Zeit kommen würde.
Endlich in meinem Zimmer, streckte ich mich auf dem Sofa vor dem wärmenden Feuer aus. Der Regen schlug an meine Fenster. Meine Kopfschmerzen wurden immer schlimmer und Übelkeit stieg in mir auf. Ich nahm etwas Laudanum, mehr als sonst, um die Schmerzen endlich loszuwerden.
Nach einer Weile begann die Arznei zu wirken. Mein Kopf wurde freier, und ich spürte, wie das von Laudanum bewirkte Gefühl leichter Euphorie von mir Besitz ergriff. Müde stand ich auf, kleidete mich aus und schlüpfte in mein Bett. Bevor ich einschlief, nahm ich Thomas Willis’ Buch vom Nachttisch und legte es ungeöffnet auf meine Bettdecke, in der Hoffnung, daß mir, wenn ich es nur lange genug ansah, der flüchtige Traum wieder einfallen würde.
Doch anstelle des Traums kam mir eine andere Erinnerung – an das Gespräch, das ich drei Tage zuvor mit Dr. Young geführt hatte. ›Sie haben doch das Buch von Thomas Willis gelesen, nicht wahr?‹ hatte ich Dr. Young gefragt. Und er hatte geantwortet: ›Thomas Willis? Ja, aber damals habe ich noch studiert.‹
Ich war sehr schläfrig, aber ich spürte, daß ich der Antwort sehr nahe war. Ich schlug nun doch das letzte Kapitel des Buches auf und überflog den Text, den Thomas Willis vor langer, langer Zeit niedergeschrieben hatte. ›Da wir nunmehr die Natur der Seuche aufgezeigt haben… vor allem solche Fiberkrankheiten, die man als seuchenartig und heimtückisch bezeichnet… werden
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